Gefährte unserer letzten Einsamkeiten

Die Erfahrung der Ohnmacht Gottes, der doch der Allmächtige ist

Quelle
KathTube; Oh Haupt voll Blut und Wunden

Joseph Ratzinger: die Erfahrung der Ohnmacht Gottes, der doch der Allmächtige ist – sie ist die Erfahrung und die Not unserer Zeit. – Teil 2

Rom, kath.net, 18. April 2014

kath.net veröffentlicht die “Drei Meditationen zum Karsamstag von Joseph Ratzinger (1969):

2. Meditation

Die Kreuzigung

Die Verborgenheit Gottes in dieser Welt ist das eigentliche Geheimnis des Karsamstags, das sich uns in dem Rätselwort andeutet, Jesus sei “abgestiegen zu der Hölle”. Insofern hat uns die Erfahrung unserer Zeit einen ganz neuen Zugang zum Karsamstag geschaffen, denn die Verborgenheit Gottes in seiner eigenen Welt, die doch eigentlich mit tausend Zungen von ihm künden müsste, die Erfahrung der Ohnmacht Gottes, der doch der Allmächtige ist – sie ist die Erfahrung und die Not unserer Zeit.

Aber wenn uns so der Karsamstag innerlich ganz nahe gerückt ist, wenn wir den Gott des Karsamstags mehr begreifen als die machtvollen Manifestationen Gottes in Sturm und Gewitter, von denen das Alte Testament erzählt, so bleibt doch die Frage, was denn eigentlich näherhin gemeint sei mit der rätselhaften Formel, Jesus sei “abgestiegen zu der Hölle”. Sagen wir es offen: Niemand kann das wirklich erklären, und es wird auch dadurch nicht wesentlich klarer, dass man feststellt, Hölle sei hier eine falsche Übersetzung für das hebräische Wort Scheol, das einfach das Totenreich insgesamt bedeute, und so besage die Formel ursprünglich allein dies, dass Jesus in die Tiefe des Todes abgestiegen, wirklich tot gewesen sei und am Abgrund unseres Todesschicksals teilgenommen habe. Denn nun steht die Frage auf: Was ist das eigentlich, der Tod, und: was geschieht eigentlich, wenn man in die Tiefe des Todes absteigt?

Wir werden dabei bedenken müssen, dass Tod nicht mehr dasselbe ist, seitdem Christus in ihn eingestiegen ist, seitdem Christus ihn durchdrungen und angenommen hat, so wie Leben, menschliches Sein nicht mehr dasselbe ist, seitdem die menschliche Natur in Christus Gottes eigenes Sein berühren durfte und darf. Vordem war Tod nur Tod, Abgeschiedensein vom Land der Lebendigen und – wenn auch in verschiedener Tiefe – so etwas wie “Hölle”, Nachtseite des Daseins, undurchdringliches Dunkel. Nun aber ist auch Tod noch Leben, und wenn wir hindurchschreiten durch die eisige Einsamkeit der Pforte des Todes, begegnen wir immer noch ihm, der das Leben ist, der Gefährte unserer letzten Einsamkeiten werden wollte und der in der tödlichen Einsamkeit seiner Ölbergangst und seines Kreuzesrufes “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” zum Teilhaber unserer Verlassenheiten wurde.

Wenn ein Kind einsam in dunkler Nacht durch einen Wald gehen muss, wird es sich fürchten, auch wenn ihm hundertmal bewiesen worden wäre, dass dort nichts Gefährliches sei. Es fürchtet sich nicht vor etwas Bestimmtem, das es nennen könnte, sondern es erfährt im Dunkel die Ungeborgenheit, die Ausgesetztheit, das Unheimliche des Daseins an sich. Nur eine menschliche Stimme könnte es trösten; nur die Hand eines liebenden Menschen die Angst wie einen bösen Traum beiseite scheuchen. Es gibt eine Furcht – die eigentliche, in der Tiefe unserer Einsamkeiten wohnende Furcht -, die nicht durch Verstand, sondern nur durch die Gegenwart eines Liebenden überwunden werden kann, weil diese Furcht sich auf nichts Nennbares bezieht, sondern das Unheimliche unsrer letzten Einsamkeit ist. Wer hätte nie das Erschreckende solchen Verlassenseins gefühlt? Wer nie das heilig-tröstende Wunder erfahren, das ein Wort der Liebe in solchem Augenblick bedeutet?

Wo aber eine Einsamkeit entsteht, in die kein Wort der Liebe mehr verwandelnd dringen kann, da sprechen wir von Hölle. Und wir wissen, dass nicht wenige Menschen unserer scheinbar so optimistischen Zeit der Meinung sind, dass alle Begegnung an der Oberfläche bleibe, dass kein Mensch zu der letzten, eigentlichen Tiefe des andern Zutritt habe, und dass so im tiefsten Grund von unser aller Dasein die Verzweiflung, ja, die Hölle wohne. Jean-Paul Sartre hat das in einem seiner Dramen künstlerisch ausgesagt und damit zugleich den Kern seiner Lehre vom Menschen blossgelegt. Und in der Tat: Eins ist gewiss – es gibt eine Nacht, in deren dunkle Verlassenheit keine tröstende Stimme dringt, eine Tür, durch die wir nur einsam schreiten können: das Tor des Todes. Alle Furcht dieser Welt ist im letzten die Furcht dieser Einsamkeit. Deshalb auch war im Alten Testament das Wort für das Todesreich und für die Hölle ein und dasselbe: Scheol. Denn der Tod ist die Einsamkeit schlechthin. Jene Einsamkeit aber, der die Liebe nicht mehr leuchten kann, die so tief ist, dass die Liebe nicht mehr Zutritt hat zu ihr, ist die Hölle.

“Abgestiegen zu der Hölle” – dies Bekenntnis des Karsamstags bedeutet, dass Christus das Tor der Einsamkeit durchschritten hat, dass er abgestiegen ist in den unerreichbaren, unübersteigbaren Grund unseres Verlassenseins. Es bedeutet, dass auch in der letzten Nacht, in die kein Wort mehr dringt, in der wir alle wie weinende, ausgestossene Kinder sind, eine Stimme ist, die uns ruft, eine Hand, die uns nimmt und führt. Die unübersteigliche Einsamkeit des Menschen ist überstiegen, seitdem Er in ihr war. Die Hölle ist überwunden, seitdem die Liebe auch in die Region des Todes eingetreten ist und das Niemandsland der Einsamkeit bewohnt wird von ihm. Der Mensch lebt im Tiefsten nicht vom Brot, sondern im Eigentlichen seines Menschseins lebt er davon, dass er geliebt wird und selber lieben darf. Seitdem es die Anwesenheit der Liebe im Raum des Todes gibt, gibt es Leben mitten im Tod: Deinen Gläubigen, Herr, wird das Leben nicht genommen, nur verwandelt, betet die Kirche in ihrer Totenliturgie.

Niemand kann es ausmessen, was es im Letzten heisst, dies Wort “abgestiegen zu der Hölle”. Aber wenn wir selbst einmal auf die Stunde unserer letzten Einsamkeit zugehen, werden wir etwas von der grossen Helligkeit dieses dunklen Geheimnisses begreifen dürfen. In der hoffenden Gewissheit, dass wir in jener Stunde tiefster Verlassenheit nicht allein sein werden, können wir jetzt schon ein weniges davon erahnen. Und mitten in unserem Aufbegehren gegen das Dunkel des Gottestodes beginnen wir, dankbar zu werden für das Licht, das gerade aus diesem Dunkel zu uns kommt.

Aus: Joseph Ratzinger, Meditationen zur Karwoche, Kyrios-Verlag, Freising 1969; die drei Meditationen wurden veröffentlicht in Die Angst vor einer Abwesenheit, Beilage zu 30Tage, Nr. 3, März 1994

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