Heimat ist komplizierter

“Wir waren katholisch erzogen worden, doch davon schien damals nichts übrig geblieben zu sein”

RaphaelRaphaelTeil 2: Ja wir hatten ein Halbes für das Ganze gehalten
Teil  1: Das ist die Geschichte eines Engels
Rezension 

Leseprobe 3 aus “Raphaël – Die Wiederkehr eines Erzengels” von Paul Badde

Rom. 27. September 2013, kath.net)

Im Winter 1972 kaufte ich deshalb in London in der Portobello Road auch zwei grosse Hefte aus Kalifornien, in denen ein gewisser Stephen Pickering in einer Reihe überzeugender Aufsätze nachwies, dass Dylan nur mit der Kenntnis des jüdischen Talmud zu verstehen sei. Per Hand schrieb ich mir Sätze aus diesen Heften ab.

Ein besonders unverständliches Zitat pinnte ich mit einer mysteriösen Zeichnung später in Frankfurt am Main in unserer Mansarde übers Bett, weil ich es so schön fand, nicht weil ich wusste, was damit gemeint war. No place, no ha-makom. Not here, not there”. Der hebräische Buchstabe Aleph schwebte in der Zeichnung unter dem Zitat in einem Sternenkranz zwischen einem Mund und einer Schlange. Darunter waren Wasserwellen. Waren es die Wasser der Urflut? Gehörte der Mund zum Antlitz Gottes? Stand der Buchstabe Aleph – für die Zahl Eins und jeden Anbeginn – auch für Adam? Stand Adam hier zwischen Gott und der Sünde? Auf all diese Fragen gab Stephen Pickering keine Antwort. Alles war nur sehr rätselhaft – und fesselte mich doch so, dass ich jeden Morgen meinen Blick darauf warf.

“In der jüdischen Kabbala ist ‘makom’ ein Geheimname für Gott”, habe ich drei Jahrzehnte später von Klaus Berger erfahren, dem grossen Theologen aus Heidelberg. .’Ha-Makom’ heisst ‘der Ort’, und die jüdische Mystik ist eine geographische Theologie, eine Religion der heiligen himmlischen Hallen, die übereinander getürmt die himmlische Stadt ausmalen – wie ein bergan gerichteter Basar”. Als hätte ich es schon immer geahnt. Heimat, wie meine Mutter und mein Vater sie noch gekannt hatten, hatten wir damals nicht mehr und kannten sie nicht. Zu reisen galt für mich als Leben schlechthin, es war meine Leidenschaft. Meine älteren Brüder hatten es mir vorgemacht, die alle irgendwie heraus wollten aus Deutschland, in eine grössere und unzerstörte Welt, in der die Väter noch Helden und keine Kriegsverlierer waren. Das letzte Motiv war mir fremd, weil ich meinen Vater bis zu seinem Tod nur verehrt hatte. Doch “Ubi bene ibi patria!“ hatte ich mir als Gymnasiast mit einem Filzstift auf meinen Rucksack geschrieben, mit dem ich per Anhalter durch Europa und um das westliche Mittelmeer gereist war: “Wo es gut ist, da ist das Vaterland!”

So einfach ist es natürlich nicht. Heimat ist komplizierter. Die grundsätzlichen Fragen nämlich – Wer bin ich, Woher komme ich, Wohin gehe ich? – diese Fragen stellten wir uns seit unserem Kommunionunterricht als Kinder nicht mehr wirklich. Wir waren nicht unglücklich, aber so war es. Wir lebten im Moment, von Tag zu Tag, ohne Sonntag, selbst bei den Geburten unserer ersten Kinder. Alles war Gegenwart. Unsere Hochzeit war heiter, aber auch eine der einsamsten Eheschliessungen seit Adam und Eva, und wir feierten sie mit unseren kleinen Kindern und drei Freunden in der Mansarde über dem Frankfurter Zoo, wo wir abends hoch über den Kastanienbäumen vor unserem Fenster die Löwen mit ihrem Heimweh nach Afrika brüllen hörten, im Chor mit den Nilpferden, Schimpansen und allen möglichen Vögeln des Dschungels. Als wir an diesem Abend zu Bett gingen, war es, als hätten wir auf eine heimliche Weise das erste Fest seit unseren Kindheitstagen erlebt.

Mein Freund Bernhard, unser Trauzeuge, hatte uns dazu einen alten Stich Jerusalems von 1590 über unseren Tisch geheftet, den er aus einem Buch ausgeschnitten hatte, mit der lateinischen Inschrift aus dem Buch Ezechiel darüber: “Haec est Jerusalem. Ego eam in medio Gentium posui, et in eius circuitu terras”. Das heisst auf Deutsch: “Das ist Jerusalem. Ich habe es mitten unter die Völker und die Länder ringsum gesetzt”. Es war das einzige Hochzeitsgeschenk und hängt heute noch bei uns im Flur. Wir waren katholisch erzogen worden, doch davon schien damals nichts übrig geblieben zu sein. Kein Gebet, kein Gottesdienst, nichts. Kein Gott? Das will ich nicht sagen, doch er hatte in unserem Leben nichts zu sagen. Wenn ich allein in einer fremden Stadt an einer alten und offenen Kirche vorbeikam, konnte es zwar immer noch geschehen, dass ich heimlich eintrat, automatisch meine rechte Hand in das Weihwasserbecken tauchte und mich bekreuzigte – oder sogar vor dem Tabernakel das Knie beugte, wenn mich keiner sah –, doch im Grunde hatte ich einfach abgelegt, wer ich als Kind und Jugendlicher war, als wäre ich es nie gewesen. Es war so, wie es damals Tausenden meiner Generation ging, völlig lautlos und unbemerkt, sogar vor uns selbst. Scham hatte die christliche Herkunft verschluckt. Plötzlich wurde kein Wort mehr darüber laut in den vielen geschwätzigen Debatten meiner Generation. Das betraf natürlich den Kult, den Gottesdienst, aber auch die Bildung, von dem Anspruch an ein christliches Leben ganz zu schweigen. Wir taten und liessen, was wir wollten, feierten, was und wie uns gerade zumute war. Alles in allem war es ein höchst undramatischer Verlust, wie in dem Gedicht Erich Kästners, wo es heisst: “… sie kannten sich gut. / Da kam ihnen die Liebe abhanden / wie anderen Stock oder Hut.”

kath.net-Buchtipp:
Raphaël. Die Wiederkehr eines Erzengels
Von Paul Badde
Gebundene Ausgabe 224 Seiten;
2013 Herbig
ISBN 978-3-7766-2725-1
Preis 15.50 EUR

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