Kommentar

 Die Lebenslüge der Wahlfreiheit

Kardinal MeisnerDie Tagespost, 21. Mai 2013, von Stephan Baier

Die Verlogenheit unserer Familienpolitik ist nicht minder empörend als die der demographischen Debatte. Seit Jahrzehnten rezitiert die Politik ohne Unterlass das Mantra der Wahlfreiheit: Die Lebensentwürfe von Frauen dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, so heisst es auch jetzt wieder, um die Kritik von Kardinal Meisner abzuschmettern, ohne sich auf eine echte Debatte einzulassen. Tatsächlich ist die Wahlfreiheit der Frau allenfalls für die Gattinnen der Besserverdiener Wirklichkeit. Millionen Frauen in Europa haben gar nicht die Wahl, eine Familienphase einzulegen und sich mehrere Jahre um mehrere eigene Kinder zu kümmern.

Millionen Frauen sind zwar nicht gesetzlich, aber ökonomisch dazu gezwungen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Die viel zitierte Wahlfreiheit ist eine Utopie, solange Kinderreichtum in Europa das Armutsrisiko Nummer eins ist und unsere aus dem 19. Jahrhundert tradierten Lebensarbeitszeitmodelle den beruflichen Wiedereinstieg von Frauen nach einer längeren Kinder- und Familienphase unmöglich machen.

Der Kölner Kardinal hat mit seinen klaren Worten völlig Recht – auch damit, dass er an die DDR erinnert. Denn auch im wiedervereinten Deutschland des Jahres 2013 herrscht eine ideologisch gestrickte Familienfeindlichkeit, die selbst durch ihre desaströsen sozialen und wirtschaftlichen Folgewirkungen nicht korrigiert wird. Ganz Europa rast in hoher Geschwindigkeit in die demographische Krise, aber weder die Wirtschaft noch die Politik ringen sich zu den unvermeidbaren Kurskorrekturen durch. Obwohl der schnell alternde Kontinent Europa dringend mehr Kinder bräuchte, wird Kinderlosigkeit gesellschaftlich und ökonomisch weiterhin belohnt, Kinderreichtum dagegen bestraft. Kinder sind die wichtigste Ressource einer Gesellschaft, die Zukunft haben will – doch genau diese Zukunftsinvestition soll nach Ansicht unserer Politik die Gesellschaft möglichst gar nichts kosten. Meisner hat Recht: Es bräuchte eine echte politische Wende, doch nach Jahrzehnten ideologischer Indoktrination braucht es noch dringender ein gesellschaftliches Umdenken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel