Der Papst in den Fängen von B, W, X, Y und Herrn E
Es gibt also noch eine Menge “Wahrheiten”, die ans Licht kommen müssen
Die schriftliche Anklage gegen Paolo Gabriele macht deutlich, dass der diebische Butler nicht alleine gehandelt hat – Aber die Klarnamen fehlen noch.
Die Tagespost, 14. August 2012, von Guido Horst
Vielleicht kennt sie niemand: die ganze Wahrheit. Weder der Papst, noch der Kammerdiener, noch der vatikanische Untersuchungsrichter, noch die drei Ruhestandskardinäle, die den Auftrag erhalten haben, die Hintergründe der Affäre aufzuklären, die unter dem Namen “Vatileaks” die römische Kurie heimgesucht hat.
“Vatileaks” ist wie eine Krankheit, wie ein Ausschlag, der einen Organismus befallen hat und ein Symptom dafür ist, dass im Inneren dieses Organismus ein Krankheitsherd sitzt. Keiner wollte diesen Skandal, er stört nur, lenkt ab und zieht die Aufmerksamkeit weg von dem, was Benedikt XVI. tatsächlich wichtig ist: das Jahr des Glaubens, die Lage der Christen im Nahen und Mittleren Osten, das Jubiläum der Eröffnung des Konzils, die Neuevangelisierung in den postchristlichen Ländern des Westens.
Aber seit vergangenem Montag liegen ein Strafantrag und eine Anklageerhebung vor, die zumindest einen Teil der Wahrheit ans Licht gebracht haben. Druckt man das nur auf Italienisch vorliegende Dokument aus, erhält man einen Schriftsatz von 36 Seiten. Der “Promotore di Giustizia” Nicola Picardi, eine Art Staatsanwalt in vatikanischen Diensten, hat den Strafantrag verfasst, der Untersuchungsrichter Piero Antonio Bonnet vom Tribunal des Vatikans, der den geständigen Butler des Papstes mehrfach verhört hatte, die Anklageerhebung. Seitdem dieses Dokument von jedem auf der Homepage des Presseamts des Vatikans eingesehen werden kann, ist zumindest die These, der Dokumentendieb Paolo Gabriele habe als Einzeltäter gehandelt, endgültig vom Tisch. Stück für Stück kommt die Wahrheit somit ans Licht.
Es war einer der merkwürdigsten Auftritte des Vatikansprechers Federico Lombardi, als dieser am 21. Juli den beiden Anwälten des geständigen Täters Gabriele die Gelegenheit gab, vor den von Lombardi versammelten Journalisten ihre Lesart der Geschehnisse zum Besten zu geben. Die beiden Anwälte heissen Carlo Fusco und Cristiana Arru – Fusco soll mit Gabriele befreundet sein – und nutzten damals die Gelegenheit, vor jedem Prozess und vor jeder Veröffentlichung eines Untersuchungsberichts oder einer Anklage die These unter das Volk zu bringen, der Kammerdiener habe völlig alleine gehandelt und für diesen persönlich sei der Diebstahl ein “Akt der Liebe” gewesen, im Grunde habe Gabriele dem Papst nur helfen wollen.
Diesen Unsinn kann seit vergangenem Montag niemand mehr behaupten und es wird ein Rätsel bleiben, warum der offiziell bestellte Sprecher des Vatikans sich daran beteiligt hat, eine solche Irreführung der Journalisten öffentlich zu machen. Jetzt weiss man es besser: Der Papst war offensichtlich umgeben von einem Netz von Dokumentenschmugglern – und dass der Butler Gabriele bei seinen vermeintlichen “Akten der Liebe” auch einen Scheck in Höhe von hunderttausend Euro mitgehen liess, ist seit Montag ebenfalls bekannt.
Wer sich durch die Seiten des Untersuchungsberichts und der Anklageerhebung der beiden Vatikan-Anwälte liest, stellt fest, dass diese die Anonymität der befragten Zeugen wahren wollten. Statt Klarnamen verwendet der Schriftsatz nur Grossbuchstaben. Eine Ausnahme stellen – selbstverständlich – der angeklagte Kammerdiener sowie der päpstliche Privatsekretär Georg Gänswein und der seit Montag bekannte zweite Angeklagte Claudio Sciarpelletti dar. Dieser, 48 Jahre alt, Laie, Italiener und als Informatiker angestellt im Büro für Archivierung und Dokumentation des vatikanischen Staatsanwalts, war für einen Tag, am 25. Mai, in Haft, nachdem die untersuchenden Vatikan-Gendarmen an seinem Arbeitsplatz einen Umschlag mit vertraulichen Dokumenten und der Aufschrift “P. Gabriele persönlich” gefunden hatten, und ist nun wegen “Beihilfe” zu schwerem Diebstahl angeklagt.
Ausführlich beschäftigt sich der Schriftsatz des Vatikan-Anwalts und des Untersuchungsrichters mit der psychischen Verfassung Gabrieles. Es musste nachgewiesen werden, ob der Angeklagte überhaupt schuldfähig ist. Gestützt durch die Expertise von vier Psychiatern und Psychologen, die man mit der Untersuchung des verhafteten Butlers beauftragt hatte, zeichnet der Bericht Picardis das Bild einer labilen Person: “Herr Gabriele ist charakterisiert durch eine einfache Intelligenz in einer schwachen Persönlichkeit, mit paranoiden Zügen, um eine tiefsitzende persönliche Unsicherheit zu verbergen sowie ein unerfülltes Bedürfnis nach Beachtung und Zuneigung durch andere.” Der Bericht spricht von Schuldgefühlen und einem Sinn für Grossartigkeit des Angeklagten, aber auch von dem Zwang, Zuwendung zu erhalten, was ihn dafür anfällig mache, “von anderen manipuliert zu werden, die er für seine Freunde und Verbündeten hält”. Der Schriftsatz des Anwalts lässt keine andere Schlussfolgerung zu: Gabriele hat oder hatte nicht die psychische Statur, um der “Kopf” und das “Hirn” hinter “Vatileaks” zu sein. Stattdessen bescheinigen ihm die Gutachten alle Voraussetzung, für andere als Instrument zu dienen. Doch wer hat Gabriele manipuliert?
Damit wäre man bei den Grossbuchstaben. Der Untersuchungsbericht nennt einen geistlichen Leiter Gabrieles, einen gewissen “Padre B”, der von dem Kammerdiener ebenfalls die Kopien fast aller Papst-Papiere, die dieser dem Journalisten Gianluigi Nuzzi zugespielt hatte, erhalten hat, diese dann aber – wie die Zeugenbefragung ergeben haben soll – vernichtet haben will. Des Weiteren nennt der Bericht einen “W”, der mit dem angeklagten Informatiker Sciarpelletti in Kontakt stand und über diesen Umschläge an Gabriele transportierte beziehungsweise “Post” vom Kammerdiener erhielt. Auch ein “Y” taucht auf, der über “W” und Sciarpelletti in Verbindung zu dem Butler stand, zudem noch ein “X” und ein “sig. E” – also ein “Herr E”, der mit einem vatikanischen Dokument zu tun hatte, das in dem Buch des Journalisten Nuzzi auftauchte und der so ins Visier der vatikanischen Fahnder kam. Was sich genau in den vergangenen Jahren im Staatssekretariat und zum Teil im engsten Umfeld des Papstes abgespielt hat, kann auch der Untersuchungsbericht nicht enthüllen. Zumal der Vatikan einen weiteren Bericht bisher nicht veröffentlicht hat: den, den die drei Ruhestandskardinäle Herranz, Tomko und Di Giorgi dem Papst überreicht haben, die als Sonderkommission in der Affäre “Vatileaks” ermitteln sollten und am 26. Juli mit Benedikt XVI. in Castel Gandolfo zusammengetroffen sind. Es gibt also noch eine Menge “Wahrheiten”, die ans Licht kommen müssen. Aber eine angebliche “Wahrheit” ist mittlerweile widerlegt: Dass der Kammerdiener Gabriele als Einzeltäter gehandelt hat.
Vielleicht wäre das für den Vatikan, für seine Medienarbeit und sogar für den Papst persönlich das Beste gewesen: Wenn man die Dokumentenflucht als Tat eines einzelnen Verblendeten hätte hinstellen und den Fall mit dessen Entlarvung hätte schliessen können. Aber so einfach verhält es sich nicht. Das hat der am Montag veröffentlichte Schriftsatz deutlich gemacht – und der Prozess im Herbst wird weitere Wahrheiten ans Tageslicht bringen.
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