Alle Seiten rufen zu Mässigung auf

Greift der Syrien-Krieg auf den Libanon über?

Die Tagespost, 22. August 2012

Ein Gespräch mit Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut von Oliver Maksan

Frau Scheller, sehen Sie ein Szenario, dass der syrische Bürgerkrieg auf den Libanon übergreift und das Land im Chaos versinkt?

Stellenweise haben wir ein Übergreifen des Konflikts auf den Libanon schon gesehen: die Auseinandersetzungen zwischen libanesischen Assad-Anhängern und Assad-Gegnern im Norden des Landes, und jüngst Entführungen. So angespannt, wie die Stimmung ist, ist es durchaus möglich, dass wir in der Zukunft noch mehr dieser Zwischenfälle sehen werden. Beachtlich finde ich jedoch, dass alle Seiten im Libanon sich weitestgehend zurückhalten und auch ihre Anhänger zur Mässigung auffordern.

Jenseits aller politischen Differenzen möchten alle Seiten ein Abgleiten des Landes in einen Bürgerkrieg verhindern, denn die Erfahrungen stecken tief.

Worin gründet die Schwäche des libanesischen Staates, die jetzt wieder offenbar geworden ist?

Hilflos steht er den schiitischen Entführern von Sunniten aus Syrien und anderen Staaten gegenüber. Wenn Sie sich das politische System und die Akteure anschauen, sind zwei Aspekte augenfällig: Die Institutionen sind nach konfessionellem Proporz austariert, und die wichtigsten Parteien werden im wesentlichen durch die seit Jahrzehnten gleichen Personen an der Spitze charakterisiert. Die konfessionelle Prägung des Systems, gedacht, um eine angemessene Beteiligung aller zu gewährleisten, funktioniert in der Realität nicht gut. Sie sorgt unter anderem dafür, dass Politiker eine überschaubare Wählerschaft haben und sich wenig Hoffnung auf Stimmgewinne machen können, selbst wenn sie populäre Themen aufgreifen würden. Daher ist die Politik wenig innovativ. Gleichzeitig lähmen die Beteiligten den politischen Prozess, indem sie ihre Vorhaben gegenseitig blockieren.

Die christlichen Parteien im Libanon sind in ein pro- und in ein anti-syrisches Lager gespalten. Wie kommt das?

Die Spaltung der libanesischen Christen ist nicht neu, schon im Bürgerkrieg gab es unterschiedliche Gruppen mit wechselnden Allianzen. Aktuell gibt es eine Strömung unter Führung Michel Aouns, die mit der pro-syrischen 8.-März-Koalition verbündet ist, während die meisten anderen christlichen Gruppen der anti-syrischen 14.-März-Koalition angehören, auch die Politiker Samir Geagea von den Forces libanaises und Amin Gemayel von den Phalangisten. Michel Aoun vertritt, dass es für die Christen am besten ist, sich mit anderen Minderheiten zu verbünden, während Geagea der Auffassung ist, dass Christen sich unter sunnitischer Herrschaft behaupten könnten.

Schwächt das die christliche Position?

Einerseits schwächt die Spaltung die christliche Position. Wenn Christen andererseits jedoch eine vermittelnde Funktion zwischen Sunniten und Schiiten einnehmen sollten oder wollten, wären natürlich ihre Kontakte und ihr Verständnis für die Haltung beider Seiten von unschätzbarem Wert.

Angenommen, Assad fällt: Was bedeutet das für die mit ihm verbündete Hisbollah?

Die Hisbollah hat im vergangenen Jahr schon an Unterstützung verloren. Sie hat sich immer als “Partei des Widerstands” dargestellt, als Wahrerin arabischer Interessen gegen die Unterdrückung. Ihre fortgesetzte unkritische Unterstützung des brutal gegen die eigene Bevölkerung vorgehenden Assad-Regimes hat schwer an diesem Mythos gekratzt. Ein Sturz Assads würde sie in eine prekäre Lage bringen. Sie hat zu lange auf der “falschen Seite” gestanden, um sich jetzt noch glaubhaft zu distanzieren. Die Hisbollah ist jedoch ein äusserst anpassungsfähiger politischer Akteur. Insofern halte ich es für möglich, dass sie auch in dieser Situation einen Weg finden würde, sich politisch neu zu positionieren; vielleicht mit einem noch stärkeren innerlibanesischen Fokus. Neben den Beziehungen über Syrien hat die Hisbollah auch einen direkten eigenen Draht in den Iran, sodass die Entwicklungen in Syrien sie zwar beeinträchtigen werden, aber es ist nicht gesagt, dass das nachhaltig sein wird.

Bürger aus den Golfstaaten verlassen Libanon

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