Die treulosen Diener und der Verrat am Nachfolger Petri

Sechzehn Fragen und Antworten zur Vatileaks-Affaire

Eine kath.net-Analyse von Peter Seewald

München-Rom, kath.net, 11. Juni 2012


I. Wer und was steckt hinter den “Enthüllungen” um Vatileaks?

Verrat ist keine schöne Sache, auch wenn er allzu menschlich ist. Dass er vor der Kirche nicht Halt macht, zeigt schon das Beispiel der Apostel.

Über die Hintergründe der vatikanischen Affaire, die durchaus gleichnishafte Züge trägt, können erst die Ergebnisse der Untersuchungen Auskunft geben, alles andere ist Spekulation. Fest steht nach meinen Informationen, dass es sich bei Vatileaks um ein Vorgehen handelt, das detailliert vorbereitet, systematisch ausgeführt und professionell gedeckt wurde. Und zwar nicht, um auf einige unschöne Dinge aufmerksam zu machen, sondern mit dem Ziel, der Regierung Benedikt XVI. massiv zu schaden.

II. Warum wird Privatsekretär Gänswein ins Spiel gebracht?

Dass der engste Vertraute an der Seite des Papstes diskreditiert werden soll, spricht nicht gegen, sondern für ihn. Es ist unmöglich, Schild zu sein – und im Gefecht keine Pfeile abzubekommen. Wer wie Georg Gänswein dann auch noch den Verräter enttarnt, macht sich doppelt zur Zielscheibe.

III. Wie funktioniert die Medienmaschinerie?

Nicht die Medien sind schuld an Vatileaks, aber einige haben durch absurde Spekulation, Verzerrung und Meinungsmache den Fall ins Monströse aufgebläht. Schwadronierendes Geschwafel ersetzt dabei die aufwändige Recherche, Rudelbildung das eigene Nachdenken. Wenn insbesondere die katholische Kirche in den Fokus gerät, geht es dem Discount-Journalismus nur noch darum, Empörung zu schüren. Viele Köche verderben den Brei, in diesem Fall aber kann der Brei offenbar nicht verdorben genug sein.

IV. Warum wird Altbekanntes zu einem neuen Mix verwertet?

Erstens: weil die “Enthüllungen” zu wenig hergeben; zweitens: weil Trittbrettfahrer des Skandals den Fall zur ideologischen Kriegführung nutzen. Ewiggleich blubbern und blabbern wie in einem sehr einfach gestrickten Videospiel die Sprechblasen von den “Geheimnissen des Kirchenstaates”, den “dunklen Mächten” mit ihren “üblen Machenschaften”, die nun “auch fromme Christen an der Führung ihrer Kirche zweifeln lassen.” Der aktuelle Titel des Stern bringt sogar das Kunststück fertig, in einer “Enthüllungsgeschichte” keine einzige neue eigene Recherche beizubringen. Warum auch? Das Rezept ist erprobt: abkupfern, würzen, wiederaufbereiten – voilà, es ist angerichtet. Wobei es dem Chefredakteur gelingt, dem Papst Amtsmüdigkeit nachzuweisen. Benedikt XVI. habe nämlich bereits vom “Paradies” gesprochen.

V. Wird die Bedeutung der “Enthüllungen” überschätzt?

Eindeutig ja. Viele Beobachter hatten ganz anderes erwartet und finden den Vatikan durch die bislang veröffentlichten Papiere nun mehr ent- als belastet. Die SZ-Korrespondentin Andrea Bachstein hielt wohltuend unaufgeregt fest: “Die Vorgänge waren zumeist bekannt.” Was manche als “eine brisante Einmischung” verstünden, könnte man durchaus “auch für normal halten.” Selbst der “Enthüller” Gianluigi Nuzzi gab zu, das Besondere der in seinem Buch “Sua Santità” (Seine Heiligkeit) abgedruckten Papiere liege einfach nur daran, “dass wir hier unveröffentlichte Dokumente eines Papstes haben, der noch im Amt ist.”

VI. Darf man die Vorfälle bagatellisieren?

Nein. Nicht nur der Geheimnisverrat und die Missstände um die Vatikan-Bank sind erschreckend, sondern auch der wenig brüderliche Umgang vieler Monsignore und Bischöfe miteinander. Nicht zu übersehen ist eine alteigesessene Nomenklatura, die sich lieber an Machiavelli als an Jesus zu orientieren scheint, notorische Strippenzieher, die aus Glaube Politik, aus Politik Intrigen und aus Intrigen Machtgeflechte spinnen. Im Übrigen oft aus reiner Gewohnheit, aus einer Mentalität heraus, in der solche Dinge ganz einfach mit zum Spiel gehören.

VII. Wie konnten sich die Sumpfgeflechte ausbreiten?

Es ist kein Geheimnis, dass der Vorgänger Benedikts sich mehr um das globale Gefüge als um innervatikanische Angelegenheiten kümmerte, schon aus den Prioritäten einer Epoche heraus, in der die Welt durch einen Eisernen Vorhang geteilt war. Man sollte freilich nicht den Blick für die Realitäten verlieren. Ein grosser Geist sagte einmal über Klöster, was auch für den Vatikan gilt: Wie ich keine gefalleneren Menschen sah als hier, so habe ich nirgendwo anders auch keine heiligeren gesehen.

Im Übrigen ist es eine naive Vorstellung, dass da, wo es um Heiligkeit geht, nur Heiliges zu finden ist. Bereits der Verrat des Judas zeigt zeichenhaft die beiden grossen Versuchungen der Kirche: a) die Versuchung des Mammons – indem sich Judas aus der Kasse der Gemeinde bedient, b) den ideellen, geistlichen Verrat, indem er gegen einen Messias opponiert, weil dieser so ganz und gar nicht den eigenen Vorstellungen entspricht.

VIII. Geht es bei der Vatileaks-Affaire nicht auch darum, den Papst auf Missstände aufmerksam machen?

Diese Spekulation unterstellt, dass Benedikt XVI. isoliert und schlecht unterrichtet ist. Aber schon als Kardinal zeigte sich Joseph Ratzinger nicht nur intellektuell stets auf der Höhe der Zeit, sondern immer auch bestens informiert. Richtig ist, dass ihm Intrigenwirtschaft und Ränkespiele zuwider sind. Es ist der Papst selbst, der sagt: Die grösste Gefahr für die Kirche kommt aus der Kirche selbst.

IX. Ist der Papst nicht mehr handlungsfähig?

So soll es zumindest aussehen. Die Souveränität des Papstes und seine Kirchenführung werden infrage gestellt. Ziel ist, die Regierungsführung zu beeinflussen und mittels Erpressung bis in den Stab des Papstes hinein operieren zu können. Dazu gehört dann eben auch, missliebige Personen wie einen Papstsekretär in Verruf zu bringen.

X. Ist Benedikt XVI. ein schwacher Papst?

“Wenn ich schwach bin, bin ich stark”, hat Paulus einmal gesagt. Insofern ist dieser Papst in der Tat ein schwacher Papst. Aber das versteht nur, wer gelernt hat, mit der Intelligenz des Glaubens, nach der Lehre Christi zu denken. Nicht die Macht ist es, die die Welt zum Guten verändern kann. Und nicht das blosse Management ist es, das Kirche halten oder gar retten könnte. In seinem unerschütterlichen Vertrauen in die Kraft des Geistes kann der Papst dann auch auf krummen Zeilen gerade schreiben – und, wie Jesus, mit Mitarbeitern auskommen, die ihm gewissermassen über den Weg gelaufen sind.

XI. Ist Benedikt XVI. ein starker Papst?

Benedikt ist körperlich kein Hüne, aber schwer genug, einigen Leuten auf die Füsse zu steigen. Das Ergebnis ist bekannt. Ihm sind seit jeher Hirten suspekt, die alles laufen lassen, um des lieben Friedens willen. Dieser Papst hat wie kein anderer die Missstände in den eigenen Reihen angesprochen – und entsprechend gehandelt. Die innere Erneuerung, der er sich verschrieben hat, meint zunächst einen geistlichen Prozess, aber sie macht vor dem Apparat nicht halt. Schon die Ansage der “Entweltlichung”, dem Aufruf, sich von Macht und Institutionalisierung zu trennen, um wieder freier zu werden für das Eigentliche des Glaubens, stiess bei vielen derart auf, dass man lieber versucht, das Wort wegzuinterpretieren, anstatt es zu nutzen.

XII. Leidet der Papst unter der aktuellen Affaire?

Er leidet vor allem mit jenen aus seiner nächsten Umgebung, die nun in der Hölle ihres eigenen Gewissens schmoren. Wer Staub aufwirbelt wie er, wer unbequem ist und unbeirrt bleibt, wer an der Überlieferung festhält und hierfür die guten Gründe nennen kann, der weiss auch, dass er mit gewaltigen Gegenkräften zu tun und einiges Leid zu tragen hat.

XIII. Lassen sich die Missstände nicht einfach abstellen?

Es mag paradox klingen, aber auch das Böse hat sein Gutes. Es lässt die Grundfrage stellen: Was ist Lüge, was ist Wahrheit? Was ist falsch, was ist richtig? Und schliesslich: Wer ist für und wer ist gegen jene Schlüssel-Figur, die eingesetzt ist, wie es im Evangelium heisst, damit die Mächte der Finsternis die Kirche Christi nicht überwältigen?

Die Versuchungen der Welt sind gross, und stark kann nur sein, wer einen starken Glauben hat. Aber Widerstand ist möglich – wenn dahinter eine feste Überzeugung steht. Hierfür das Rüstzeug zu vermitteln, durch überzeugende Lehre und eigenes Vor-Bild, ist die Priorität dieses Pontifikats.

XIV. Ist Vatileaks ein Wendepunkt?

Wichtig ist, diese Affaire akkurat aufzuklären, die Ergebnisse der Untersuchung transparent zu machen, durch Offenheit und konsequentes Handeln Vertrauen zurückzugewinnen. Aus dem Verrat am Nachfolger Petri kann sich dann ein Neubeginn und eine Welle der Solidarität entwickeln. Nicht bei allen, aber bei vielen. Gleichzeitig gilt: Den Typus des untreuen, ungehorsamen Dieners, der in der Person des römischen Butlers nun wie im Lehrstück auf der Bühne erscheint, gibt es nicht nur im Vatikan. Das Eigentliche der Affaire ist weniger der Verrat irgendwelcher “Geheimnisse”, als vielmehr der Verrat an einem der Geheimnisse schlechthin, dem Charisma des Nachfolgers Petri. Vatileaks ist so gesehen überall; überall dort zumindest, wo man die Warnungen und Weisungen Petri arglos in den Wind schlägt; wo man schläft wie die Jungfrauen im Gleichnis Jesu, wo es doch gälte, ganz wach zu bleiben.

XV. Was bedeutet Vatileaks für die Zukunft?

Das Ende der Moderne kennzeichnet ein Klima von Konfusion und Verunsicherung. Die Frage ist: Was sind die wirklichen Ursachen der Krisen? Kann eine Gesellschaft gelingen, in der der Mensch sich selbst genug und einziger Massstab ist? Was will ich? Was glaube ich? Wofür stehe ich?

Im aggressiver werdenden Streit ringen einerseits eine neuheidnische, andererseits eine auf jüdisch-christlicher Tradition basierende Kultur miteinander, vielleicht müsste man sogar sagen: eine religiöse und eine nicht religiöse Welt. Insbesondere die katholische Kirche wird sich aufgrund ihrer Treue zur Überlieferung dabei auf eine Zeit verschärfter Konfrontation einstellen müssen. Sollten die Bischöfe nicht endlich auf die riesige Herausforderung reagieren, wird der Verfall der christlichen Religion, die mit die Basis der westlichen Zivil-Gesellschaften bildet, weiterhin dramatisch zunehmen.

XVI. Ist die Kirche noch zu retten?

Es geht nicht um Untergang, sondern darum, dass die bisherige Welt, unsere Art zu denken, zu glauben und zu leben, gerichtet wird, sich selbst richtet; durch den Mangel an Achtsamkeit, durch falschen Umgang mit Natur, mit Geld, mit Menschen, mit sich selbst; letztlich dadurch, sich von den Urevidenzen der Schöpfung entfernt zu haben. Im Verfall des Alten schält sich jedoch schon das Neue heraus. Morsche Äste brechen ab, und sichtbar wird das frische Grün. Der Auftrag des vermutlich letzten Papstes zwischen altem und neuem Äon ist die Wiederbelebung des Glaubens aus den Kräften seines Ursprungs. Und wer weiss, vielleicht wird man dann bald auch sagen können, dass nach Irrwegen durch die Jahrhunderte der Glaube der katholischen Kirche wieder so nah an Christus ist, wie er es noch nicht einmal im Anfang war.

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