Ein Skandal, dass nichts geschieht

Aufforderung an die Politik zum Handeln

Der Bischof von Fulda, Heinz Josef Algermissen, sieht im Gebetstag zum Schutz des ungeborenen Lebens eine Chance, das “schreiende Unrecht der Abtreibung” ins Bewusstsein einer immer gleichgültiger werdenden Gesellschaft zu bringen und fordert die Politik zum Handeln auf.

Die Tagespost, 27. Dezember 2011, von Markus Reder

Am 28. Dezember feiert die Kirche das Fest der Unschuldigen Kinder. Traditionell wird dieser Tag auch als Gebetstag zum Schutz des ungeborenen Lebens begangen. Inwieweit kann ein Gebetstag helfen, das Bewusstsein für den Lebensschutz zu stärken?

Der Gebetstag zum Schutz des ungeborenen Lebens, der in Fulda seit rund 20 Jahren ganz bewusst am Tag der Unschuldigen Kinder begangen wird, ist eine Bitte gen Himmel, das schreiende Unrecht der Abtreibung ins Bewusstsein der Menschen zu bringen. Gott kann die Herzen der Menschen bewegen, dass sie einsehen: Hier geht es um Unrecht, an das wir uns bereits gewöhnt haben. Die Gesellschaft nimmt dieses Unrecht kaum mehr wahr. Es zeigt, wie schlecht es um die Humanität dieser Gesellschaft und den Schutz der Schwächsten in ihr bestellt ist.

Wie begeht das Bistum Fulda diesen Gedenktag?

Ich habe in einem Brief an alle Geistlichen und pastoralen Mitarbeiter darum gebeten, in den Heiligen Messen, in Andachten und Segnungsfeiern für Familien mit Kindern in den Fürbitten auf das Anliegen des Lebensschutzes hinzuweisen. In Fulda selbst treffen wir uns um 18.30 Uhr an der Mariensäule am Frauenberg zum Rosenkranzgebet. Dieses Gebetstreffen ist auch eine “Demonstration”. Die Teilnehmer zeigen, dass sie sich mit ihrem Herzen und mit ganzer Kraft einsetzen und einmischen für den Lebensschutz. Das ist ein wichtiges Zeichen gegenüber der grassierenden Gleichgültigkeit. Wir treffen uns an der Mariensäule, die in Fulda auch Pestsäule heisst. Ein tiefes Symbol: Wir demonstrieren gegen eine Pest unserer Zeit. Neben den zahlreichen Kriegen halte ich den zerstörenden Umgang mit dem vorgeburtlichen menschlichen Leben für eine Seuche.

Eine Pest, die weder die Politik noch die Gesellschaft sonderlich interessiert…

Das Bundesverfassungsgericht hat Mitte der 90er Jahre dem Gesetzgeber aufgegeben, die Praxis des Paragrafen 218 nach einer bestimmten Zeit zu überprüfen. Es ist ein Skandal, dass das bis heute nicht geschehen ist. Auch das Gericht hat sein Urteil bisher nicht wieder in Erinnerung gebracht und die Politik ermahnt, endlich zu handeln. Diese Untätigkeit ist ein Indikator. Er zeigt, dass sich auch in der Rechtsprechung gesellschaftliche Veränderungen widerspiegeln. Man lässt die Dinge ganz einfach laufen.

Mit der Entscheidung, die Präimplantationsdiagnostik (PID) zuzulassen, wurde der Lebensschutz in diesem Jahr weiter ausgehöhlt. Politisch scheint man für den Lebensschutz kein Land mehr zu gewinnen. Hilft am Ende tatsächlich nur noch beten?

Was die PID-Entscheidung angeht, gegen die die katholische Kirche mehr als ein Jahr gekämpft hat, müssen wir feststellen: Es ist genauso gekommen, wie es zu befürchten war. Nach der Liberalisierung des Stammzellgesetzes wurde wieder eine Bastion gerissen. Und wieder stehen wir ohnmächtig vor dieser Entwicklung. Fundierte Argumentation zählt offenbar kaum noch. Ethische Begründungen und Normierungen werden ignoriert, am Ende siegen die normative Kraft des Faktischen und der politische Wille. Unsere Argumente werden oft gar nicht wahrgenommen. Sicher, ohne die Intervention der katholischen Kirche wäre die PID-Diskussion Anfang Juli im Bundestag so intensiv wohl kaum möglich gewesen. Aber wir finden keine politischen Mehrheiten mehr, erleben einen bioethischen Dammbruch nach dem anderen. Schlimmer noch: Das Grundgesetz wird immer weiter ausgehöhlt. Dort heisst es, die Würde des Menschen sei unantastbar. Der Wert des menschlichen Lebens gehört zu jenen Vorgegebenheiten, über die man nicht abstimmen kann. Das christliche Menschenbild prägt allerdings die Gesellschaft kaum mehr. Neuinterpretationen und Umdeutungen des Menschenwürdegedankens sind damit Tür und Tor geöffnet. Trotzdem müssen wir darum kämpfen, das Bewusstsein zu ändern. Dafür braucht es Gebet, tätigen Einsatz und Argumente gleichermassen.

Steht man da nicht auf verlorenem Posten? Sie sprechen von “Dammbruch” und “Belastung für die Gesellschaft”. Sind das nicht Positionen einer gesellschaftlichen Minderheit, die viele heute gar nicht mehr nachvollziehen können?

Ich sag’s mal drastisch: Viele Menschen schlafen einen Schlaf der Gleichgültigen. Irgendwann werden sie wachgerüttelt. Spätestens dann, wenn es um Entscheidungen geht, die ihr eigenes Leben betreffen, etwa am Lebensende. Dann könnte es aber zu spät sein. Bioethische Fragen – ganz gleich ob am Beginn des menschlichen Lebens oder an dessen Ende – sind nicht irgendwelche politische Themen, über die man so oder so denken oder abstimmen kann. Es geht immer um das zentrale Thema der Würde des Menschen, also immer um Grundsatzentscheidungen: Darf man menschliches Leben verzwecken, also töten? Darf man menschliches Leben selektieren, also zwischen wertvollem und unwertem Leben unterscheiden? Bieten wir Alten und Kranken menschliche Zuwendung und Linderung ihres Leidens oder spritzen wir sie in den Tod? Die Humanität steht auf dem Spiel. Wir sind drauf und dran, eine barbarische Gesellschaft zu werden. Das wird man schneller am eigenen Leib spüren, als viele heute meinen.

Kommt Christen in dieser Auseinandersetzung um die Humanität der Gesellschaft eine besondere Aufgabe zu?

Wer Nachfolge Jesu Christi ernst meint, kann gar nicht anders, als sich für den uneingeschränkten Schutz des Lebens stark zu machen. Wer in der heiligen Messe Tod und Auferstehung Jesu Christi, wer an Weihnachten die Menschwerdung des ewigen Wortes in Jesus Christus feiert, der muss sich, um nicht innerlich widersprüchlich zu sein, einsetzen und dadurch auch aussetzen. Wir sollten zwar keine Friedensstörer sein, müssen uns aber so einmischen, dass wir da Störenfriede sind, wo uns die Kultur des Todes anhaucht. Das ist die logische Konsequenz der erlösenden Botschaft des Evangeliums des Lebens.

Sollten sich Christen demnach stärker politisch engagieren?

Wir haben viele Gremien und Räte, deren Aufgabe es wäre, sich deutlich wahrnehmbar in der Öffentlichkeit einzumischen und auch in die Politik und in die Parteien hineinzuwirken. Das ist deren eigentliche Berufung, ihr Charisma. Das Zweite Vatikanum spricht vom Weltdienst der Laien. Das heisst: In der Welt Zeugnis geben für das Evangelium. Das ist allerdings etwas völlig anderes als die Neigung katholischer Laiengremien, sich immer wieder in lehramtliche Fragen einzumischen.

In bioethischen Fragen – das galt für die embryonale Stammzellforschung genauso wie für die PID – sprechen katholische und evangelische Kirche nicht mehr mit einer Stimme. Zumindest Teile der evangelischen Kirche haben den ökumenischen Konsens aufgekündigt und beziehen in Fragen des Lebensschutzes immer wieder andere Positionen. Was bedeutet das für die politische Wirksamkeit kirchlicher Stellungnahmen?

Das ist leider eine zutreffende Feststellung. Bei der Stammzellentscheidung 2008 galt das für den EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber, jetzt bei der bedingten Zulassung der PID in ähnlicher Weise für den jetzigen EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider. Das ist eine schwere Belastung der Ökumene. In den bioethischen Verlautbarungen der vergangenen zehn Jahre ist der Bruch zwischen Protestanten und Katholiken deutlich zu spüren. 1989 haben die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland gemeinsam die immer noch sehr lesenswerte Schrift “Gott ist ein Freund des Lebens” herausgegeben. Das wäre heute nicht mehr möglich. Heute entfernen wir uns bei jeder bioethischen Frage aufs Neue voneinander. Es gibt einige der evangelischen Landesbischöfe, die denken ähnlich wie wir Katholiken. Aber zur selben Zeit wird das durch anders lautende Stellungnahmen aus der EKD neutralisiert. Für die politische Wirksamkeit kirchlicher Stellungnahmen, für das christliche Zeugnis in die Gesellschaft, ist das verheerend. Wir geben kein gemeinsames Zeugnis, sondern ein Zeugnis des Widerspruchs. Die einen sagen so, die anderen so – und die Politik lacht sich ins Fäustchen.

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