Der Glaube ohne Welt ist leer, die Welt ohne Glaube blind
Das persönliche Glaubensleben ist der Schlüssel, um die aktuelle Kirchenkrise zu meistern
Die Tagespost, 19.10.2011, von Johannes Seibel
Wer betet, im Evangelium liest, Eucharistie feiert, kann gar nicht anders, als die Welt verändern zu wollen. Dann können auch nicht-marxistische Befreiungstheologen und Lebensrechtler Hand in Hand gehen.
Wer betet, aber meint, das sei blosse Konvention, beraubt sich der Erfahrung, dass er mit Gott wirklich in Kontakt treten kann.
“Wenn der Gegenstand des Glaubens nicht als wahr angesehen werden kann, beruht der Beitrag der Religionen zur individuellen und sozialen Lebensführung auf einer fortgesetzten Lebenslüge. Alle, die sich am religiösen Kult beteiligen und annehmen, das dabei gesprochene Wort sei sachlich von Belang, wären blamiert. Niemand könnte mehr glauben, was in den überlieferten Texten steht. Die auf Wahrhaftigkeit und existenzielle Konsequenz gegründete christliche Botschaft wäre in sich vernichtet.”
Das ist nicht etwa ein Zitat von Papst Benedikt XVI., sondern das sagte der Philosoph Volker Gerhardt, ein evangelischer Christ, am vergangenen Wochenende auf einer Tagung der Katholischen Akademie in München.
Gerhardt zeigte auch, dass dagegen die Methoden der empirischen Forschung wie etwa der Soziologie gerade darauf beruhen, von der Frage nach dem Wahrheitsgehalt des von ihnen untersuchten Gegenstandes abzusehen, um allein die Folgen in den Blick zu nehmen, die die von ihnen erforschten Objekte – etwa die Kirchen – für den Bestand der Gesellschaft haben. Der Trick bei dieser Vorgehensweise: Die empirische Forschung, also etwa auch die Religionssoziologie, geht schon als ausgemachte Tatsache davon aus, so Gerhardt, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was die Mitglieder und Funktionäre der Institution Kirche sagen, und dem, was sie leben. Gerhardt: “Diese Verfremdung des gemeinten Sinns macht sich die empirische Forschung zu eigen, wenn sie aufzählt, was Kirchen für die Sicherung des sozialen Systems leisten, ohne danach zu fragen, ob es auch wahr ist, was von den Kanzeln gepredigt, in den Gebeten hergesagt und in den Glaubensbekenntnissen beteuert wird.”
Deshalb nehmen laut Gerhardt Philosophen, Soziologen, Publizisten und Politiker heute nach einer langen intellektuellen geschichtlichen Entwicklung den christlichen Glauben meist nur noch unter der Perspektive wahr, ob er hilft, für die Gesellschaft “nützliche Tugenden” einzuüben und ob er mit seiner Lehre “nicht in Konflikt mit dem unterstellten Gesamtinteresse der Gesellschaft” gerät. So wird Religion wahrgenommen entweder als “sozialer Kitt” der Gesellschaft und “Wertefundament” der Demokratie oder im Gegenteil als “Opium fürs Volk” – immer aber in einer “Aussenansicht”, so Gerhardt. Um dagegenzuhalten: “So selbstverständlich das psychologische, soziologische und politiktheoretische Reden über die Religion auch geworden ist: Die darin vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber den Glaubensinhalten ist eine Provokation für jeden, der wirklich glaubt oder wenigstens nach einem Glauben sucht.” Für den Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität ist als Christ und professioneller Philosoph der Glauben deshalb auch “weder subjektiv noch privat noch illusionär” – was zudem erkenntnistheoretisch im Vergleich mit dem Begriff des Wissens gilt.
Provoziert die von Gerhardt diagnostizierte vorherrschende Gleichgültigkeit der gegenwärtigen politischen und Wissenschaftskultur gegenüber den Glaubensinhalten, wenn sie sich mit den Kirchen beschäftigen, jedoch wirklich die Gläubigen? Das Fragezeichen hat seine Berechtigung. Denn gerade die Kirchen selbst greifen vermehrt etwa zur Grundlegung ihrer pastoralen Arbeit oder zur Fundierung der Theologie gerne auf empirische Forschungen oder andere als genuin theologische Theorieansätze – beispielsweise soziologische – zurück. Da werden Sinus-Milieustudien in Auftrag gegeben, da wird der Unternehmensberater McKinsey um Expertise gebeten, da füttern Religionssoziologen die Ordinarien mit Zahlen und Szenarien. Um die Zeichen der Zeit zu verstehen, hilft die Kenntnis solchen Wissens – aber damit darf es nicht sein Bewenden haben, was in den Kirchen derzeit jedoch zu oft in einer Art professionellen Routine noch der Fall ist. Genau das aber ist auch der Knackpunkt des derzeitigen kirchlichen Lebens im deutschsprachigen Raum. Es gelingt den Kirchen und ihren Mitgliedern durchaus, die Zeichen der Zeit zu verstehen, nicht aber, sie aus einem inhaltlich definierten, im Lehramt tradierten und im Alltag gelebten Glauben heraus entscheidend zu gestalten, der für einen Katholiken zuerst in der Nähe zu Jesus Christus im Evangelium und den Sakramenten und der davon ausgehenden persönlichen Betroffenheit wurzelt. Der Schritt vom Wissen zur individuell und kollektiv gelebten “existenziellen Konsequenz”, dem in der pluralen Gesellschaft offensiven und glaubhaften Vertreten dessen, “was von den Kanzeln gepredigt, in den Gebeten hergesagt und in den Glaubensbekenntnissen beteuert wird” (Gerhardt), wird von Christen – ob katholisch oder evangelisch – viel zu zögerlich und verunsichert gegangen. Ein Christ heute nimmt den kirchlichen Alltag oft als zweideutig, doppelbödig und belastende Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wahr. Daraus kann er sich jedoch herausarbeiten, wenn er begreift, dass sein persönlich praktizierter Glaube eben nicht privat, nicht subjektiv und nicht illusionär (Gerhardt) ist.
Zur eben beschriebenen Zögerlichkeit und Verunsicherung tragen natürlich zahlreiche wechselseitige Missverständnisse und Vorurteile unter den jeweiligen – um unstatthafterweise einen säkularen Begriff zu gebrauchen – kirchenpolitischen Fraktionen bei, wenn der Begriff des Glaubens fällt. Sie geduldig – das heisst, ohne jeden Triumphalismus von wem auch immer – aus dem Weg zu räumen, ohne sich gleichzeitig in Unverbindlichkeit zu verlieren, ist eine der schwierigsten Aufgaben der Neuevangelisierung im deutschsprachigen Raum, die sich ja nicht allein an Kirchenferne, sondern gleichermassen an Kirchennahe richtet.
Es geht in erster Linie um folgendes Missverständnis, das sich beinahe reflexartig einstellt, wenn als Medizin für die Kirchenkrise mehr Glaubenspraxis verschrieben wird: Das ist der Rückzug in die Innerlichkeit, ins Getto der wenigen, die selbstgerecht glauben, alles besser zu wissen, die Flucht aus der Verantwortung für die Welt in die vermeintlich heile Welt der Vergangenheit und Tradition und Form, lauten dann die Vorwürfe. Dem liesse sich jedoch entgegnen: Wer regelmässig im Evangelium liest, wer regelmässig betet, wer sonntags (und manchmal auch werktags) Eucharistie feiert, weil er glaubt und erlebt, dass er bei dieser Feier Zwiegespräch mit dem dort persönlich anwesenden Jesus Christus halten kann, in dem Gutes und Schlechtes im Umgang mit sich selbst und anderen Menschen zur Sprache kommt, in dem Bestätigung wie Forderung gleichermassen erfahren werden, wer das Sakrament der Beichte wiederentdeckt, das zu einem reifen Umgang mit der eigenen Unperfektheit anleitet, der kann gar nicht anders, als über sich hinauszugehen, die Gesellschaft verändern, sich ins Öffentliche einmischen zu wollen, das bloss Private abzustreifen – der wird geradezu vor der Gefahr einer falschen Innerlichkeit bewahrt, sich in sich selbst zu verkapseln. Wer im Evangelium gelesen, wer gebetet, wer Eucharistie gefeiert, wer gebeichtet hat, wird letztlich immer vor die Frage gestellt: “Was musst Du und was muss sich ändern?” Wer eine solche persönliche Glaubenspraxis mit allen ihren Hochs und Tiefs einübt und versucht zu verstetigen, den werden die Ungerechtigkeiten dieser Welt, den wird das, was falsch läuft, nicht kalt lassen, der wird gestärkt und motiviert, den kann der allgegenwärtige routinierte Zynismus nicht so schnell betäuben.
Diese persönliche Glaubenspraxis kann unterschiedlichste Folgen haben, die alle kirchenpolitischen Kategorien von konservativ und progressiv, rechts und links und so weiter und so fort hinter sich lässt. Eine Befreiungstheologie beispielsweise, die nicht marxistisch ist, sondern von Jesus Christus her gleichsam franziskanisch die Option für die Armen wählt, ist immer auch von einer persönlichen Glaubenspraxis in Gebet, Eucharistie und Sakramenten befeuert – dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Der Einsatz für die Armen, für Frieden und für eine gerechte Entwicklung in der Welt lässt sich vom Einzelnen nur leisten und durchhalten, wenn er dies nicht allein als innerweltlich politische, sondern als über das Jetzt hinausweisende, spirituelle Aufgabe und Verpflichtung erkennt – und wenn er an die Verheissung des christlichen Glaubens, an das Kommen des Reiches Gottes, an eine göttliche Gerechtigkeit nach dem Tod des und der Menschen wirklich glaubt.
Die persönliche Glaubenspraxis kann beispielsweise auch dazu drängen, schwangeren Frauen in Notsituationen zu helfen, damit der Druck für sie geringer wird, der sie in der Abtreibung einen vermeintlichen Ausweg sehen lässt, um sich so für das Lebensrecht einzusetzen. Die persönliche Glaubenspraxis kann motivieren, sich als ehrenamtlicher Hospizhelfer zu engagieren, um Menschen zu helfen, damit sie gut versorgt zu Hause sterben können – um so denjenigen etwas entgegenzusetzen, die aktive Sterbehilfe legalisieren wollen, was ein gesellschaftliches Klima weiter mit anheizt, in dem Nützlichkeit und das Perfekte zu Kriterien der Menschenwürde werden. Wer dabei noch, wie er es etwa als Katholik im Glaubensbekenntnis sagt, an ein Leben nach dem Tod wortwörtlich glaubt, und wem auch das Heil der Seele ein Begriff ist, der wird im Hospizalltag nicht stumpf.
Wer im Evangelium liest, wer in der Eucharistiefeier auf Jesus Christus hört und mit ihm wirkliche Gemeinschaft feiert, wer im Gebet darum bittet, wer in der Beichte sich fordern lässt, Gott und den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, für den werden persönlicher Glaube, die gelebte Beziehung zu Gott, die christliche Tradition und der Einsatz in und für die Welt nicht länger Widersprüche sein, für den hat der persönliche Glaube nichts Formelhaftes, ist kein blosses diffuses Gefühl, der muss ihn nicht länger in einer Art Schizophrenie der Trennung von Anspruch und Wirklichkeit leben. Dieser Glaube ist dann einfach wahr. Da spielt es dann auch keine Rolle mehr, ob der aus dem regelmässig praktizierten Glauben motivierte Einsatz für Entwicklungspolitik oder für das Lebensrecht kirchenpolitisch als “links” oder “rechts” etikettiert und in Opposition gebracht wird, weil sich beides dann nicht mehr ausschliesst: In dem Sinne, wie der Papst in seiner Bundestagsrede neben eine “Ökologie der Natur” eine “Ökologie des Menschen” stellt.
Wer letztlich die Kategorie des persönlichen Glaubenslebens und seiner Intensivierung vorurteilslos ernst nimmt, wer in den Bistümern und Gemeinden dafür ansprechende Formen aus der reichen Tradition der Kirche und ihres Lehramtes heraus findet, der wird als Einzelner und als Kirche im wahrsten Sinne des Wortes viele Wunder erleben. Der braucht dann keine Angst mehr vor dem Glauben zu haben.
Prof. Dr. Volker Gerhardt
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