Pfingsten
Die Kirche in Europa steht vor der radikalsten Herausforderung ihrer Geschichte – Scheitert die Neuevangelisierung, war’s das für das Christentum – Die Folgen wären katastrophal – Noch immer fehlt das Bewusstsein für die Dramatik der Stunde. Von Markus Reder
Es kann sehr unangenehm sein, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Das gilt für jeden Einzelnen wie für ganze Institutionen. Nie weicht man schneller aus, als in jenen unbequemen Momenten, die einen mit der eigenen Wahrheit konfrontieren. Der Wahrheit über sich selbst. Der Wahrheit über eigene Fehler und Schwächen, über Schuld und Versagen. Nichts wie weg, heisst es dann. Wir haben unsere inneren Fluchtwege grell markiert, damit wir sie auch im Dunkeln finden, und unsere Verdrängungsmechanismen professionalisiert. Doch das alles nützt nichts. Irgendwann holt einen die Wahrheit ein. Das gilt auch für die Kirche. Die Kirche mag sich noch so sehr in Selbstbespiegelung flüchten, ihre innere Zerrissenheit mit Dialogprozessen kaschieren. Die bittere Wahrheit ist die: Der Kirche in Europa bleibt nur noch wenig Zeit bis zu einem “point of no return”. Bis zu dem Punkt also, an dem es endgültig zu spät ist, an dem der Glaube in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.
Es gibt keine Garantien für ein Fortbestehen des Christentums in einem Kontinent, dessen Gesellschaft und Kultur einst vom Geist des Evangeliums geprägt war, und dessen Humanität ihren Bestandsschutz im Glauben an Jesus Christus hatte. Das alles ist im Wanken. Etliches ist bereits eingestürzt. Die Risse im Fundament werden immer grösser. Machtvoll streckt die Zivilisation des Todes ihre Krallen nach dem Menschen aus. Schon vor Jahrzehnten rief Papst Paul VI. zur Gegenoffensive. Mit seiner Enzyklika “Evangelii nuntiandi” legte er die Grundlage für das, was später zum grossen Thema des Pontifikats von Johannes Paul II. wurde: die Neuevangelisierung. Die ganze Dramatik der Stunde kommt in den Worten zum Ausdruck, die der selige Papst am 11. Oktober 1985 in seiner Ansprache bei einem Symposion der europäischen Bischöfe wählte, als er davon sprach, dass das säkularisierte Europa die Kirche heute vor die radikalste Herausforderung ihrer Geschichte stelle.
Trotz solcher aufrüttelnder Appelle ist das Bewusstsein für das, was auf dem Spiel steht, in der Kirche deutscher Zunge bis heute erschreckend unterentwickelt. Statt aufzubrechen und erneut die Netze auszuwerfen, dümpelt das Schifflein Kirche mit rückwärtsgewandten Strukturdebatten vor sich hin. Doch Rom mahnt unermüdlich weiter. Papst Benedikt XVI. hat den Päpstlichen Rat zur Förderung der Neuevangelisierung ins Leben gerufen. “Wir müssen alle Energien aufwenden, um mit frischer Kraft dieser Welt das Evangelium so zu verkünden, dass es in ihr ankommt”, hat Benedikt im Interview mit Peter Seewald betont.
Tatsächlich wäre maximaler Kraft- und Energieaufwand erforderlich, um einer entchristlichen Gesellschaft zu helfen, Christus neu zu entdecken. Doch wer sieht, womit Kirche hierzulande Kraft verbraucht und Energie verschwendet, der bekommt Zweifel, ob das noch gelingen kann. Nach menschlichem Ermessen scheint das eine kaum mehr zu bewältigende Aufgabe. Aber nach menschlichem Ermessen war es auch ein Ding der Unmöglichkeit, dass sich aus dem kleinen Kreis der Apostel, der sich am Pfingsttag versammelt hatte, die grösste Glaubensgemeinschaft der Welt entwickeln würde.
Auch heute gibt es zahlreiche Aufbrüche in der Kirche. Nicht aus der Institution, sondern aus einem authentischen Glauben heraus. Darum wäre schon etwas gewonnen, wenn die ideologischen Betonmischer unter den Berufskatholiken in Kleriker- und Laienstand nicht jeden Aufbruch, der nicht in ihre Klamottenkiste passt, platt walzten. Solche Zustände zeigen nämlich: Nicht die säkularisierte Gesellschaft ist die grösste Herausforderung der Kirche, ja nicht einmal ein aggressiver Atheismus. All dem könnte eine geeinte Kirche, die sich ihrer Sendung bewusst ist, begegnen.
Doch wo innerhalb der Kirche und der Theologie der Glaube zersetzt wird, wo Spaltung regiert und politisches Kalkül das Evangelium verdrängt, da gibt es keine missionarische Strahlkraft. Deshalb gilt für die Kirche als ganzes wie für jeden einzelnen Christen: Der Neuevangelisierung muss die Selbstevangelisierung vorausgehen. Wo das geschieht, wo Christus wieder die Mitte ist, da gewinnt das Leben der Kirche Attraktivität zurück. Der erste Weg der Evangelisierung ist das Zeugnis des christlichen Lebens, hat Paul VI. in “Evangelii nuntiandi” betont. Die Echtheit dieses gelebten Zeugnisses sei wichtiger als das Wort von Gelehrten, hob Paul VI. hervor. Das ist nicht nur ein Appell an alle Laien, mitzuarbeiten. Das zeigt vor allem: In der Kirche fehlt es nicht an Worten, sondern an authentisch gelebtem Glauben.
Pfingsten ist das Fest der Heiligen Geistes. Es ist Gottes Geist, der lebendig macht, der aus lähmender Selbstbeschäftigung befreien und Mut zum Aufbruch schenken kann. Dafür braucht es Bereitschaft und Offenheit. Mit dieser Haltung beginnt jede Evangelisierung. Nicht irgendwo, sondern bei jedem ganz persönlich.
Unsere Pfingstausgabe widmet sich mit zwei Beilagen dem Thema Neuevangelisierung: Unser “Forum” ab Seite 17 bietet neben grundsätzlichen Beiträgen auch konkrete Beispiele. Unsere “Pilger Zeitung” zum Weltjugendtag in Madrid haben wir ebenfalls dieser Aufgabe beigefügt. Gerade die Weltjugendtagsbewegung zählt ja zu den grossen evangelisatorischen Impulsen. Zugleich möchten wir alle Leser ermuntern, sich auf unserer Leserbrief-Seite mit gelungenen Beispielen für eine Neuevangelisierung zu Wort zu melden. Oft sind es kleine, (zunächst) unscheinbare Initiativen, die wertvoll und beispielhaft sind. Ihnen möchten wir Platz geben. Denn was gut ist, braucht Öffentlichkeit. Dafür wollen wir sorgen. Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir ein reich gesegnetes Pfingstfest.
Pfingstsonntagabend 13. Mai 1940
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