Zeit der “neuen Evangelisierung”

 “Neue Evangelisierung”. Die Bedeutung einer Definition (Ausschnitt)

“Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt?” (Röm 10, 14)

Auch wenn die Rede von der “neuen Evangelisierung” sicherlich verbreitet und auch angenommen ist, bleibt dieser Begriff doch einer, der erst vor kurzem im Gesamt des kirchlichen und pastoralen Nachdenkens aufgetaucht ist, und dessen Bedeutung daher nicht immer klar und fest umrissen ist. Der Begriff wurde erstmals von Papst Johannes Paul II. während seiner ersten Polenreise  benutzt, und zwar zunächst ohne eine besondere Gewichtung und auf eine Art und Weise, die zunächst nicht erkennen liess, welche Rolle der Begriff in der Folge bekommen sollte.

Später hat er den Begriff der “neuen Evangelisierung” wieder aufgegriffen und vor allem in seinem auf die Kirchen in Lateinamerika bezogenen Lehramt unterstrichen. Papst Johannes Paul II. griff auf diesen Begriff zurück, um Schwung in eine Sache zu bringen; er führte ihn ein, als ein Mittel, um Energie im Hinblick auf einen neuen missionarischen und evangelisatorischen Eifer weiter zu geben. Den Bischöfen Lateinamerikas sagte er: “Die Erinnerung an ein halbes Jahrtausend Evangelisierung wird ihre volle Bedeutung entfalten, wenn sie für Euch als Bischöfe, gemeinsam mit Eurem Presbyterium und Euren Gläubigen zur Verpflichtung wird; sicher nicht zu einer Verpflichtung der Re-Evangelisierung, vielmehr einer neuen Evangelisierung. Neu in ihrem Eifer, in ihren Methoden, in ihren Ausdrucksformen”. Es geht nicht darum, etwas zu wiederholen, was schlecht gemacht wurde, oder nicht funktioniert hat, so als ob der neue Einsatz ein implizites Urteil über das Scheitern des ersten wäre. Die neue Evangelisierung ist keine Verdopplung der ersten, sie ist keine einfache Wiederholung, sondern der Mut, angesichts der gewandelten Voraussetzungen, unter denen die Kirche gerufen ist, heute die Verkündigung des Evangeliums zu leben, neue Wege zu wagen. Der lateinamerikanische Kontinent war in der damaligen Zeit aufgerufen, sich den neuen Herausforderungen (der Verbreitung der kommunistischen Ideologie, dem Auftauchen der Sekten) zu stellen; die neue Evangelisierung ist die Aktion, welche einem Prozess der Unterscheidung der Geister folgt, innerhalb dessen die Kirche in Lateinamerika gerufen ist, die Situation, in der sie sich befindet, zu erkennen und zu bewerten.

In eben dieser Bedeutung wird der Begriff im Lehramt Papst Johannes Pauls II. im Hinblick auf die Universalkirche wieder aufgegriffen und erneut vorgeschlagen: “Heute sieht die Kirche sich mit anderen Herausforderungen konfrontiert; sie muss zu neuen Ufern aufbrechen, sei es in ihrer Erstmission ad gentes, sei es in der Neuevangelisierung von Völkern, die die Botschaft von Christus schon erhalten haben. Heute wird von allen Christen, von den Ortskirchen und von der Weltkirche derselbe Mut verlangt, der die Missionare der Vergangenheit bewegt hat und dieselbe Verfügbarkeit, um die Stimme des Geistes zu hören”: die neue Evangelisierung ist zunächst vor allem ein geistliches Tun, die Fähigkeit, uns in unserer Zeit den Mut und die Kraft der ersten Christen, der ersten Missionare anzueignen. Es geht also um ein Tun, das zunächst einmal einen Prozess der Unterscheidung der Geister im Hinblick auf den Gesundheitszustand des Christentums, die Bedeutung der bisher unternommenen Schritte und die Schwierigkeiten, denen man dabei begegnet ist, erforderlich macht. Im gleichen Zusammenhang stellt Papst Johannes Paul II. verdeutlichend fest: “Die Kirche muss heute auf dem Gebiet der Evangelisierung einen grossen Schritt nach vorne tun und in eine neue historische Etappe ihrer missionarischen Dynamik eintreten. In einer Welt, die durch die Aufhebung der Entfernungen immer kleiner wird, müssen die Gemeinden untereinander Verbindung suchen, Kräfte und Mittel austauschen und sich miteinander in der einen und gemeinsamen Sendung, das Evangelium zu künden und zu leben, engagieren. “Die sogenannten jungen Kirchen” – meinten die Synodenväter – “bedürfen der Kräfte der älteren Kirchen. Letztere aber brauchen das Zeugnis und den Elan der Jüngeren, so dass die einzelnen Kirchen vom Reichtum der anderen schöpfen”.

Dies versetzt uns in die Lage, die dynamische Funktion des Konzeptes der “neuen Evangelisierung” zu erkennen: es wird verwendet, um das Bemühen um Erneuerung zu beschreiben, das die Kirche vollbringen muss, um in angemessener Weise den Herausforderungen begegnen zu können, welche der heutige sozio-kulturelle Kontext in Folge der starken Veränderungen, die im Gang sind, für den christlichen Glauben, seine Verkündigung und seine Bezeugung, darstellt. Auf diese Herausforderungen antwortet die Kirche nicht, indem sie sich aufgibt, oder sich in sich selbst verschliesst, sondern indem sie die Wiederbelebung des eigenen Körpers in Angriff nimmt, und dafür die Gestalt Jesu Christi, die Begegnung mit Ihm, in den Mittelpunkt stellt, der den Heiligen Geist und die Kräfte für eine Verkündigung des Evangeliums auf neuen Wegen schenkt, welche in der Lage sind, zur heutigen Kultur zu sprechen.

In dieser Darstellung wird der Begriff “neue Evangelisierung” auch von den Kontinentalversammlungen der Bischofssynode, welche in Vorbereitung auf das Jubiläumsjahr 2000 gefeiert wurden, aufgegriffen und wieder vorgeschlagen und dabei als Begriff betrachtet, der sich bereits in der ekklesiologischen und pastoralen Reflexion der Ortskirchen niederschlagen hat. “Neue Evangelisierung” ist Synonym für den geistlichen Aufbruch des Glaubenslebens in den Ortskirchen, der Beginn von Unternehmungen zur Bestimmung der Veränderungen, welche das christliche Leben in den verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten betreffen, einer relecture der Erinnerung des Glaubens, die Übernahme neuer Verantwortungen und neuer Energie im Hinblick auf die freudige und ansteckende Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi. Die Worte Johannes Pauls II. an die Kirche in Europa sind ausreichend beispielhaft und synthetisch: es hat sich “die Dringlichkeit und Notwendigkeit der “Neuevangelisierung” klar abgezeichnet, in dem Bewusstsein, daß “Europa heute nicht schlechthin auf sein vorgegebenes christliches Erbe hinweisen kann: Es muss vielmehr in die Lage versetzt werden, erneut über die Zukunft Europas zu entscheiden, in der Begegnung mit der Person und Botschaft Jesu Christi”.

Ungeachtet seiner Verbreitung und Bekanntheit gelingt es dem Begriff jedoch nicht, voll und ganz in den Diskurs integriert zu werden, sei es innerhalb der Kirche oder innerhalb der Kultur. Im Hinblick auf ihn bleiben einige Vorbehalte so, als ob man mit seiner Hilfe ein vernichtendes Urteil vorbereiten und einige Seiten aus der jüngeren Geschichte der Ortskirchen entfernen wolle. Es gibt solche, die den Zweifel hegen, dass die “neue Evangelisierung” ein neues Aufflammen des Proselytismus von Seiten der Kirche vor allem im Bezug auf andere christliche Konfessionen verschleiern oder verbergen wolle. Man ist geneigt zu denken, dass mit dieser Bestimmung ein Wandel in der Haltung der Kirche gegenüber denen einhergeht, die nicht glauben, und die dann eher als “zu überzeugende Objekte”, denn als Gesprächspartner innerhalb eines Dialogs betrachtet würden, der uns als Teil der gleichen Menschheit sieht und auf der Suche nach der Wahrheit unseres Daseins. Während seiner Apostolischen Reise in die Tschechische Republik wollte Papst Benedikt XVI. dieser letzten Sorge seine Aufmerksamkeit schenken und zugleich eine Antwort geben: “Hier fällt mir das Wort ein, das Jesus aus dem Propheten Jesaja zitiert hat: dass der Tempel von Jerusalem ein Gebetshaus für alle Völker sein solle (Jes 56, 7; Mk 11, 17). Er dachte dabei an den sogenannten Vorhof der Heiden, den er von äusseren Geschäftigkeiten räumte, damit der Freiraum da sei für die Völker, die hier zu dem einen Gott beten wollen, auch wenn sie dem Geheimnis nicht zugehören konnten, dem das Innere des Tempels diente. Gebetsraum für alle Völker – dabei war an Menschen gedacht, die Gott sozusagen nur von ferne kennen; die mit ihren Göttern, Riten und Mythen unzufrieden sind; die das Reine und Grosse ersehnen, auch wenn Gott für sie der “unbekannte Gott” bleibt (Apg 17, 23). Sie sollten zum unbekannten Gott beten können und damit doch mit dem wirklichen Gott in Verbindung sein, wenn auch in vielerlei Dunkelheit. Ich denke, so eine Art “Vorhof der Heiden” müsse die Kirche auch heute auftun, wo Menschen irgendwie sich an Gott anhängen können, ohne ihn zu kennen und ehe sie den Zugang zum Geheimnis gefunden haben, dem das innere Leben der Kirche dient”.

Uns Gläubigen müssen auch jene Menschen am Herzen liegen, welche sich selbst für Agnostiker oder Atheisten halten. Vielleicht werden sie aufgeschreckt, wenn man von neuer Evangelisierung spricht, so, als ob sie ein Objekt der Mission werden sollten. Aber die Frage nach Gott bleibt auch für sie präsent. Die Suche nach Gott war das grundlegende Motiv für die Entstehung des abendländischen Mönchtums, und, damit verbunden, der abendländischen Kultur. Der erste Schritt der Evangelisierung besteht darin, diese Suche am Leben zu erhalten. Es ist erforderlich, nicht nur mit den Religionen in Dialog zu treten, sondern auch mit denen, für die Religion etwas Fremdes ist.

Das Bild des “Vorhofs der Heiden” wird uns als weiterer Bestandteil der Reflektion über die “neue Evangelisierung” angeboten, welche jener Mut ist, den die Christen haben, nie aufzugeben, um auf eine positive Weise Wege zu finden, auf denen es gelingt, Formen des Dialogs zu schaffen, welche die tiefsten Erwartungen der Menschen und ihren Durst nach Gott auffangen. Jene Kühnheit erlaubt es, in diesen Zusammenhängen die Frage nach Gott zu stellen, die eigene Erfahrung der Suche mitzuteilen und über das Geschenk des Evangeliums Jesu Christi zu sprechen. Eine solche Fähigkeit, eine solche Haltung macht zunächst eine Selbstbesinnung erforderlich, eine innere Reinigung, um die Spuren der Angst, der Müdigkeit, der Betäubung, der Rückbezogenheit auf sich selbst zu erkennen, welche die Kultur, in der wir leben, in uns hervorbringen konnte. Der zweite Schritt besteht dann darin, dank der Unterstützung des Heiligen Geistes sich mit neuem Schwung wieder auf den Weg zu machen, hin auf jene Erfahrung Gottes des Vaters, welche wir dank der gelebten Begegnung mit Jesus allen Menschen verkünden können. Diese Momente stellen keine zeitlich getrennten Etappen dar, die eine nach der anderen folgen, es handelt sich vielmehr um geistliche Anstösse, die im christlichen Leben ohne Unterbrechung einander folgen. Der Apostel Paulus berichtet davon, wenn er die Erfahrung des Glaubens als eine Befreiung “aus der Macht der Finsternis” beschreibt, als Aufnahme “in das Reich seines geliebten Sohnes. Durch ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden” (Kol 1, 13-14; vgl. auch Röm 12, 1-2). So ist auch diese Kühnheit für das Christentum nicht etwas absolut Neues oder noch nie da Gewesenes, denn es gibt Spuren dieser Haltung schon in der patristischen Literatur.

Quelle
Papst.Johannes-Paul-II.:  Polenreise 1979
Seliger-Papst-Johannes-Paul-II.
Papst-Benedikt-XVI.:  Apostolische Reise in die Tschechische Republik
Papst-Benedikt-XVI.
Ecclesia-in-Europa:  Quelle der Hoffnung für Europa

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