Ein Traum von einer Enzyklika

“Fratelli tutti’ – Bruno-Marie Duffé rät dazu, den Text ernst – und wörtlich zu nehmen

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Enzyklika „Fratelli tutti“: Eine Zusammenfassung

Ist Franziskus blauäugig? Man kann natürlich seine Visionen von einer geschwisterlichen Welt, die er in der neuen Enzyklika Fratelli tutti vorlegt, belächeln. Doch Bruno-Marie Duffé rät dazu, den Text ernst – und wörtlich zu nehmen.

Der französische Geistliche ist der zweite Verantwortliche im vatikanischen Entwicklungsministerium. Im Vatikansprech heisst das: Sekretär des Dikasteriums für ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Im Interview mit Radio Vatikan lädt Duffé lädt dazu ein, sich auf Franziskus‘ Traum von einer einzigen, geeinten Menschheit einzulassen. Das fängt – unabhängig von einigen unverantwortlich agierenden Politikern – mit einer neuen Wertschätzung für die Politik an.

„Es gibt da wirklich einen Appell, die Politik zu rehabilitieren! Sie darf nicht einfach der Wirtschaft und dem technokratischen Paradigma untergeordnet sein. Der Papst will die politische Dimension stärken, und er will den wirklichen Sinn des Begriffs Volk rehabilitieren: als Schicksalsgemeinschaft, nicht als von einer Ideologie oder Idee zusammengehaltene Gruppe. Franziskus will, dass die Demokratie sich unter den besten Umständen entfalten kann.“

Was baut unsere Gesellschaft auf?

Das geht in Fratelli tutti mit Appellen an Politiker, Wirtschaftsführer und internationale Institutionen wie die UNO einher, sich auf Dialog und Geschwisterlichkeit einzulassen. Doch auch den Einzelnen hat der Papst im Blick: Jeder sollte sich für das Gemeinwesen engagieren, sich mitverantwortlich fühlen.

„Das ist wirklich ein starker Aufruf zu einer Neudefinition von geteilter Verantwortung, bei der sich die Talente eines jeden entfalten können – und bei der es in dieser Hinsicht keine Armen, Unnützen gibt. Es gibt in dieser Perspektive nur Menschen mit einer bestimmten Gabe, und es ist die Wertschätzung dieser verschiedenen Fähigkeiten, die eine menschliche Gemeinschaft aufbaut. Das rührt an eine grundlegende Frage: Was baut unsere menschliche Gesellschaft denn auf? Sind das nur bestimmte Interessen, oder geht es da viel fundamentaler um den Bau eines gemeinsamen Hauses?“

Starke Inspiration: Franz von Assisi

Franziskus heisst nicht nur Franziskus wie der Heilige – er hat seine neue Enzyklika auch am Vortag des Franziskusfestes in der Franziskusbasilika von Assisi unterzeichnet. Deutlicher könnte sein Bezug auf den hl. Franz von Assisi kaum sein. Diese Inspiration war übrigens bei seiner ersten Sozialenzyklika, Laudato si‘ vor fünf Jahren, ganz ähnlich gelagert.

„Man kann feststellen, dass Fratelli tutti gewissermassen Laudato si‘ fortsetzt: als neues Kapitel eines grundlegenden Nachdenkens. In den drei Schlüsseltexten von Papst Franziskus – ausser den zwei genannten Enzykliken ist das auch noch (sein Apostolisches Schreiben) Evangelii gaudium (von 2013) – ist der Bezug auf die Spiritualität des hl. Franz von Assisi konstant, wie ein Licht, das den Weg erleuchtet. Sehr wichtig an der neuen Enzyklika scheint mir auch die Betrachtung zur Gestalt des barmherzigen Samariters im Kapitel ‚Ein Fremder am Weg‘. Sie fordert uns heraus zu Nächstenliebe und einer Spiritualität der Nähe.“

Die Fernstenliebe

Nah sollen wir uns nun aber nicht nur denen fühlen, die uns umgeben und – buchstäblich – nahestehen. Sondern gerade den Fernen, den Fremden, denen, die anders ticken als wir. Eine Utopie?

„Nein. Das ist einfach ein Ideal, eine Dynamik. Man sollte es als eine Art Horizont verstehen – es gibt unserem Vorwärtsgehen einen Sinn und ein Ziel. Dem Papst ist völlig klar, dass seine Überlegungen idealistisch wirken können. Aber es gibt da zwei verschiedene Arten von Idealismus: einen, der im luftleeren Raum schwebt, und den von Fratelli tutti. Der Text spricht doch ständig von Gewalt, von Unterdrückung von Menschenrechten. Er bleibt nicht im Bereich des Nachdenkens, sondern drängt zum Handeln, zum Engagement. Zur Verantwortung.“

vatican news – sk, 13. Oktober 2020

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