Nahe ist der Herr den zerbrochenen Herzen Ps 34.19
Brief an Ehepaare in Trennung, Scheidung und in neuer Verbindung
Quelle
Kardinal Tettamanzi r.i.p.
Dionigi Tettamanzi
Nahe ist der Herr den zerbrochenen Herzen Ps 34.19
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Brief an Ehepaare in Trennung, Scheidung und in neuer Verbindung
Geliebte Brüder und Schwestern,
seit langer Zeit hege ich den Wunsch, mich an Euch zu wenden – möglichst direkt und persönlich. Gerne würde ich Euch um die Erlaubnis bitten, wie ein Bruder in Euer Haus eintreten zu dürfen und mir ein wenig Zeit zu schenken. Nun tue ich es mit diesem meinem Brief, der einfach und familiär sein möchte, quasi eine Bitte, mich neben Euch setzen zu dürfen, um ein Gespräch zu führen, das euch – wie ich hoffe – angenehm ist und vielleicht auch eine Fortsetzung findet.
Wie viele von Euch sind gläubig, fühlen sich als Mitglied der Kirche und erkennen im Bischof auch einen Vater und Lehrer. Mir als Bischof liegen auch diejenigen sehr am Herzen, welche getauft sind und sich vielleicht nicht mehr als Gläubige bezeichnen oder sich aus der grossen Gemeinschaft der Jünger des Herrn ausgeschlossen fühlen durch Unverständnis oder Enttäuschung. Ich möchte sowohl den einen als auch den anderen begegnen und mit Euch allen ins Gespräch kommen, um ein wenig die Freuden und Leiden unseres gemeinsamen Weges zu teilen; um aus Eurem Alltagsleben zu hören; um mir von Euch Fragen stellen zu lassen; um Euch meine Gefühle und Wünsche anzuvertrauen, welche ich euretwegen im Herzen trage.
Also: Wenn Ihr diese Seiten lest, öffnet ein wenig die Türe Eures Hauses und erlaubt mir einzutreten! Aber auch ich öffne mich, wenn ich diese Zeilen schreibe, mit dem Wunsch des gegenseitigen Vertrauens.
Die Kirche ist Euch nahe
In erster Linie möchte ich Euch sagen, dass wir uns nicht gegenseitig als Fremde betrachten dürfen: Ihr seid für die Kirche und für mich als Bischof geliebte und willkommene Schwestern und Brüder. Und dieser mein Wunsch, mit Euch ins Gespräch zu kommen, entspringt einer ernsthaften Zuneigung und dem Wissen, dass Ihr Fragen und Nöte habt, die, so kommt es Euch wohl vor, von der Kirche oft vernachlässigt oder gar nicht erst erkannt werden. Ich möchte Euch also sagen, dass sich die christliche Gemeinschaft um eure menschliche Not kümmert. Natürlich, einige von Euch haben harte Erfahrungen gemacht im Umgang mit der kirchlichen Realität: Sie haben sich in einer ohnehin schon schwierigen und
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schmerzhaften Situation nicht verstanden gefühlt. Sie haben vielleicht niemanden gefunden, der bereit war, ihnen zuzuhören und ihnen zu helfen. Und manchmal haben sie vielleicht Worte gehört, die den Beigeschmack eines unbarmherzigen Urteils hatten oder gar einer Verurteilung ohne Berufungsmöglicheit. Und so wurde ihr Eindruck genährt, dass sie von der Kirche verlassen oder zurückgewiesen seien.
Das Erste, was ich Euch sagen möchte, wenn ich mich neben Euch setze, ist also
folgendes: “Die Kirche hat Euch nicht vergessen! Um so mehr weist sie Euch nicht
zurück oder erachtet Euch als unwürdig!
Mir kommen die Worte von Johannes Paul II. in den Sinn, als er sich im Jubiläumsjahr
2000 an die Familien aus aller Welt wandte: “Angesichts so vieler zerstörter Familien
fühlt sich die Kirche nicht berufen, ein ernstes und distanziertes Urteil auszusprechen.
Sie möchte vielmehr in all diese Dramen das Licht des Wortes Gottes hineinstellen,
begleitet vom Zeugnis seiner Barmherzigkeit.”
Wenn Ihr nun auf Eurem Weg Männern und Frauen der christlichen Gemeinschaft
begegnet seid, die Euch mit ihrer Haltung oder ihren Worten auf irgendeine Art und
Weise verletzt haben, ist es mein Wunsch, euch mein Missfallen darüber auszudrücken
und alle, jede und jeden einzelnen, der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit des Herrn
anzuempfehlen.
Wir als Christen spüren eine spezielle Zuneigung für Euch, so wie Eltern, die mit
erhöhter Aufmerksamkeit und Eifer über dasjenige Kind wachen, das in Schwierigkeiten
ist und leidet, oder wie Geschwister, die sich mit vermehrtem Zartgefühl und Tiefe
begegnen, nachdem sie lange Zeit Mühe hatten, einander zu verstehen und offen
miteinander zu sprechen.
Eure Wunde ist auch unsere
Nun möchte ich mich Euren Fragen und Überlegungen zuwenden.
Auch wir Kirchenleute wissen, dass das Ende einer ehelichen Beziehung für den
grössten Teil von Euch keine leichte Entscheidung war, geschweige denn eine
leichtfertige. Es war vielmehr ein schmerzhafter Schritt in Eurem Leben, eine Tatsache,
die Euch zutiefst mit der Frage beschäftigte: Warum ist diese Ehe gescheitert, an die Ihr
geglaubt und in die Ihr viel Energie investiert habt?
Auf jeden Fall hinterlässt der Entschluss zu diesem Schritt Wunden, die nur langsam
heilen. Vielleicht schleichen sich sogar Zweifel ein, ob etwas so Grosses, auf das man so
viel Hoffnung gesetzt hat, beendet werden soll. Unausweichlich kommt die Frage nach
der gegenseitigen Verantwortlichkeit auf. Man fühlt sich im Vertrauen zum Ehepartner
verraten, den man fürs ganze Leben gewählt hatte. Man empfindet die Ungerechtigkeit
gegenüber den Kindern, die ohne eigenes Verschulden in dieses Leid hineingezogen
werden.
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Ich kenne dieses Gefühl der Beunruhigung und versichere Euch, dass es einen Schmerz
und eine Wunde ausdrückt, welche die ganze kirchliche Gemeinschaft betrifft.
Das Ende einer Ehe ist auch für die Kirche ein Leidensgrund und Anlass zu wichtigen
Fragen: Warum erlaubt es der Herr, dass dieses Band zerbricht, welches das “grosse
Zeichen” seiner totalen, treuen und unzerstörbaren Liebe ist?
Wie hätten wir vielleicht diesen Eheleuten nahe sein müssen oder können?
Sind wir mit ihnen den Weg gegangen der wahren Vorbereitung und des wahren
Verständnisses des Ehebundes, den sie miteinander geschlossen haben?
Haben wir sie mit Zartgefühl und Aufmerksamkeit auf ihrem Weg als Paar und Familie
vor und nach der Hochzeit begleitet?
Wir teilen mit Euch diese Fragen und diesen Schmerz und sie treffen uns zutiefst, weil
sie nach etwas fragen, das uns ganz unmittelbar betrifft: die Liebe als Traum und
grössten Wert im Leben aller und jedes einzelnen.
Ich denke, dass Ihr als christliche Eheleute verstehen könnt, in welchem Sinn uns dies
alles zutiefst betrifft.
Ihr wolltet Euren Ehebund in der christlichen Gemeinschaft schliessen, als Sakrament,
als grosses, wirksames Zeichen, das die Liebe Gottes in der Welt bezeugt. Eine totale
Liebe, unzerstörbar, treu und fruchtbar, wie die Liebe Christi zu uns.
Indem die christliche Gemeinschaft Eure Hochzeit feierte, erkannte sie in Euch diese
neue Wirklichkeit und sie hat die Gnade Gottes herabgerufen, damit dieses Zeichen ein
Licht und freudiger Vorbote für diejenigen sei, welche Euch begegnen.
Wenn diese Verbindung getrennt wird, fühlt sich die Kirche in einem gewissen Sinn
verarmt, eines leuchtenden Zeichens beraubt, das ein Zeichen der Freude und des Trostes
hätte sein sollen.
Die Kirche betrachtet Euch also nicht als Fremde, die einen Vertrag gebrochen haben,
sondern sie fühlt sich als Teil dieser Qual und dieser Fragen, die Euch so tief betreffen.
Ihr könnt also, zusammen mit den Euren, auch unsere Gefühle verstehen.
Vor der Entscheidung, sich zu trennen
Jetzt möchte ich mich neben Euch setzen und mit Euch über die vielen Schritte und
Prüfungen sprechen, die Euch dazu geführt haben, Eure eheliche Erfahrung
abzubrechen.
Ich kann nur versuchen, mir vorzustellen, dass Ihr vor dieser Entscheidung Tage erlebt
habt, in denen das Zusammenleben schwierig war; es gab nervliche Anspannungen,
Ungeduld und gegenseitiges Sich-nicht-Ertragen, Misstrauen, manchmal auch
mangelnde Offenheit, das Gefühl, betrogen worden zu sein, Enttäuschung durch eine
Person, die jetzt so anders ist als zum Zeitpunkt des Kennenlernens.
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Diese täglichen und wiederholten Erfahrungen führen dazu, dass das Haus nicht länger
ein Ort der Zuneigung und der Freude ist, sondern ein Gefängnis, das einem den
Herzensfrieden zu nehmen scheint.
Es endet damit, dass die Stimmen immer lauter werden, dass vielleicht auch der Respekt
schwindet, und dass jede Eintracht verlorengeht.
Und man merkt, dass man kein gemeinsames Leben mehr führen kann.
Nein, die Entscheidung, das eheliche Leben aufzugeben, kann nie als eine einfache und
schmerzlose Entscheidung betrachtet werden! Wenn zwei Eheleute auseinander gehen,
tragen beide in ihrem Herzen eine Wunde, die ihr Leben mehr oder weniger prägt und
das ihrer Kinder und aller, die sie lieben (Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde).
Diese Eure Wunde versteht auch die Kirche.
Auch die Kirche weiss, dass es in gewissen Fällen nicht nur erlaubt, sondern auch
unvermeidbar sein kann, dass die Entscheidung einer Trennung gefällt werden muss: um
die Würde einer Person zu schützen, um tiefe Traumata zu vermeiden, um die Grösse der
Ehe zu verteidigen, die nicht zu einer unerträglichen Aneinanderreihung von
gegenseitigen Gemeinheiten verkommen darf.
Nein zur Resignation
Vor einer so ernsten und wichtigen Entscheidung sollen aber die Resignation und der
Wille, dieses Kapitel zu schnell zu beenden, nicht siegen.
Die Trennung soll im Gegenteil zu einer Gelegenheit werden, dass man das Eheleben aus
grösserer Distanz und mit klarem Kopf betrachtet. Es ist nicht angebracht, dass wir – so
lehrt es uns ein weises Prinzip des geistlichen Lebens – definitive Entscheidungen fällen,
solange unser Geist durch Unruhe oder Stürme aufgewühlt ist.
Es ist nicht gesagt, dass alles verloren ist: Vielleicht sind noch Energien vorhanden, um
zu verstehen, was im Leben als Paar und als Familie passiert ist. Vielleicht versucht
man, weise und kompetente Hilfe herbeizuholen, um eine neue Phase des gemeinsamen
Lebens anzustreben. Oder vielleicht findet man den Raum, um ehrlich die
Vernachlässigung jener Verantwortung einzugestehen, welche jenen Liebesbund aufs
Spiel gesetzt hat.
Es gibt immer Verantwortung. Oft aber geben wir sie der Umgebung, der Gesellschaft,
dem Zufall ab. In Wahrheit wissen wir jedoch, dass es auch unsere Verantwortung ist.
Auch wenn sie nicht gewollt sind, auch wenn sie anfänglich ohne Hintergedanken,
sondern aus purer Oberflächlichkeit geschahen: Es gibt Gesten, Worte, Gewohnheiten
und Entscheidungen, welche das Eheleben belastet und zu seinem Scheitern beigetragen
haben.
Wie viele Eheleute sind plötzlich allein und empfinden diese Situation als eine
Ungerechtigkeit: “Ich habe keine Schuld daran! Ich wollte das nicht! Ich habe alles
Mögliche getan!”
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Das Wort vom Kreuz
Ich möchte alle, welche im Licht der Wahrheit verstehen, dass sie eine bestimmte, auch
schwerwiegende Verantwortung haben, den Schatz ihrer eigenen Ehe zerstört zu haben,
bitten: Vernehmt den Ruf der barmherzigen Liebe Gottes! Gott beurteilt uns in Wahrheit.
Er ruft uns zur Umkehr auf. Er heilt uns mit dem Vorschlag zu einem neuen Leben.
Diese eigene Verantwortung anzuerkennen, heisst nicht, in sinnloser und schädlicher
Schuld zu leben. Es will vielmehr heissen, das eigene Leben für diese Befreiung und
diesen Neubeginn zu öffnen, die uns der Herr erfahren lässt, wenn wir von ganzem
Herzen zu Ihm zurückkehren.
Lasst uns alles daran setzen, um die negativen Konsequenzen abzuwenden, welche die
eigene Familie betreffen, damit das eigene Leben ändert… all das muss mit Mut und
Sorgfalt getan werden.
Ich möchte zudem allen Eheleuten, welche ihre Ehekrise als plötzliche Ungerechtigkeit
empfinden, sagen: Vergesst, solange ihr Christen seid, das schmerzhafte, aber
lebendigmachende Wort vom Kreuz nicht! Von diesem schrecklichen Ort des
Schmerzes, der Verlassenheit und der Ungerechtigkeit aus hat der Herr Jesus die Grösse
seiner Liebe als unentgeltliche Vergebung und Selbsthingabe gezeigt.
Als Bischof, und vor allem als Christ, kann ich dieses Wort nicht vergessen, aber ich
fühle das Bedürfnis, es euch von Herzen anzubieten als ein Wort, das zwar Herz und
Leben bluten lässt, aber nicht ohne Frucht und ohne Sinn ist.
Und wenn Ihr in jeder Eucharistiefeier nur Eure Mühe darbringt, alles zu verstehen und
zu vergeben, so habt Ihr, zusammen mit Christus, schon einen grossen Schatz, den ihr
darbringen könnt – in Erinnerung an sein Kreuz: die demütige Hingabe Eurer Armut.
In den schmerzhaften Kapiteln Eurer Lebensgeschichte sind die Kinder oft die
unschuldigen, aber nicht weniger darin verwickelten Protagonisten.
Und es sind es auch die grossen Kinder, die im heiklen Alter der Jugend ihre affektiven
Sicherheiten zusammenbrechen sehen und oft Schwierigkeiten haben, einmal ihren
eigenen Traum von Liebe zu verwirklichen.
Aber die Hoffnung schwindet nicht: Jeden Tag sehen wir um uns herum heroische und
bewunderungswürdige Beispiele von Eltern, die, allein geblieben, ihre eigenen Kinder
mit Liebe, Weisheit, Eifer und Entschiedenheit aufziehen und erziehen.
Ich danke jenen Müttern und Vätern, die uns allen ein grosses Beispiel geben. Ich danke
ihnen, ich bewundere sie und ich hoffe, dass unsere Gemeinschaften ihnen eine Stütze in
ihren Nöten sind.
Gleichzeitig möchte ich alle getrennten Eltern ermahnen, das Leben ihrer Kinder nicht
zu erschweren, indem sie diese der Gegenwart und des rechten Ansporns durch den
anderen Elternteil und der Herkunftsfamilien berauben. Die Kinder brauchen den Vater
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und die Mutter. Das sehen auch die zivilen Gesetze vor. Unnütze Rache, Eifersucht oder
Härte schaden den Kindern.
Was ich bis jetzt über die Situation der Trennung gesagt habe, gilt noch mehr für
diejenigen, die sich, manchmal plötzlich und quasi unabwendbar, für die Scheidung und
für eine neue zivile Ehe entschieden haben. Und es gilt auch für diejenigen, welche nicht
direkt in eine Trennung oder Scheidung verwickelt sind, aber als Paar oder mit einer
getrennten oder geschiedenen Person zusammenleben. Auch wenn ich an diese Personen
denke, möchte ich noch eine letzte Frage stellen, die mir sehr am Herzen liegt und die
ich mit grossem Ernst mit Euch erörtern möchte.
Gibt es in der Kirche einen Platz für Euch?
Welchen Platz gibt es in der Kirche für Getrennte, Geschiedene, Wiederverheiratete?
Ist es wahr, dass die Kirche sie für immer aus ihrem Leben ausschliesst?
Auch wenn die Lehre des Papstes und der Bischöfe in diesem Punkt klar ist und viele
Male dargelegt wurde, kommt es vor, dass man dieses Urteil hört: “Die Kirche hat die
Geschiedenen exkommuniziert! Die Kirche stellt die Getrennten vor die Türe!”
Dieses Urteil ist so radikal, dass diese Eheleute in der Krise oft dem Leben der
christlichen Gemeinschaft fernbleiben, aus Angst, dass sie zurückgewiesen oder
zumindest verurteilt werden.
Ich möchte meinem Vorschlag treu sein und mit brüderlicher Einfachheit zu Euch
sprechen, ohne zu lange zu sprechen, und so verweise ich Euch von neuem auf den
entscheidenden Punkt dieser Überlegung, das Wort Jesu, dem wir als Christen treu sein
müssen. In diesem Wort finden wir die Antwort auf unsere Frage.
Das Wort des Herrn zur Ehe
Jesus hat auch von der Ehe gesprochen, und er hat es mit einer solchen Radikalität getan,
dass die ersten Jünger erstaunt darüber waren. Viele von ihren waren wahrscheinlich
verheiratet.
Jesus bestätigt, dass der eheliche Bund zwischen einem Mann und einer Frau
unauflöslich ist (vgl. Mt 19,1-12), weil sich im Ehebund der ganze ursprüngliche Plan
Gottes für die Menschheit zeigt und damit Gottes Wunsch, dass der Mensch nicht allein
sei, dass der Mensch ein gemeinsames beständiges und treues Leben führe. Das ist das
Leben Gottes selbst, der die Liebe ist, eine treue Liebe, unauslöschlich und fruchtbar für
das Leben. Diese Liebe Gottes wird – wie in einem leuchtenden Zeichen – in der
gegenseitigen Liebe von Mann und Frau gezeigt. Und so sind sie, wie Jesus bekräftigt,
“nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was Gott verbindet, das darf der Mensch nicht
trennen” (v. 6).
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Seit jenem Tag hört das Wort Jesu nicht auf, uns zu provozieren und auch zu
beunruhigen. Schon in jenem Moment waren die Jünger empört über die Ansicht Jesu,
ja sie protestierten beinahe, dass es, wenn die Ehe ein so grosser und herausfordernder
Ruf sei, vielleicht “nicht gut ist, zu heiraten” (v. 10).
Aber Jesus ermutigt uns und schenkt uns Vertrauen: “Wer es fassen kann, der fasse es”
(vgl. v. 11). Er fasse es, dass diese Herausforderung nicht dazu gemacht ist zu
erschrecken, sondern vielmehr die Grösse verkünden soll, zu welcher der Mensch
gemäss Gottes Schöpferplan gerufen ist.
Diese Grösse findet ihren Höhepunkt, wenn der Ehebund in der Kirche als Sakrament
gefeiert wird, im wirksamen Zeichen jener bräutlichen Liebe, die Christus mit seiner
Kirche verbindet. Jesus verlangt von uns nicht das Unmögliche, er gibt sich uns selbst als
Weg, als Wahrheit, als Leben der Liebe hin.
Die Worte Jesu und das Zeugnis, wie er seine Liebe zu uns gelebt hat, sind der einzige
und bleibende Bezugspunkt für die Kirche aller Zeiten. Sie hat sich deshalb nie
bevollmächtigt gesehen, einen sakramental gültigen Ehebund auflösen zu können, der
sich in voller, auch in der intimen Einheit der Eheleute, die “ein Fleisch” geworden sind,
ausdrückt.
Und in diesem Gehorsam gegenüber dem Wort Jesu liegt der Grund, warum die Kirche
die sakramentale Feier einer zweiten Ehe, nachdem der erste bräutliche Bund gebrochen
worden ist, als unmöglich erachtet.
Das Warum der Enthaltung von der eucharistischen Kommunion
Immer vom Sinn des Wortes Jesu leitet sich die Verordnung der Kirche ab, dass der
Zugang zur eucharistischen Kommunion für Eheleute unmöglich ist, die in einer
beständigen zweiten Verbindung leben.
Aber warum?
Weil wir in der Eucharistie das Zeichen der unauflöslichen bräutlichen Liebe Christi zu
uns haben. Diesem Zeichen wird vom “übertretenden Zeichen” von Eheleuten, die eine
Ehe geschlossen haben und in einer zweiten Beziehung leben, objektiv widersprochen.
Versteht also, dass die Norm der Kirche nicht ein Urteil über den affektiven Wert und
die Qualität der Beziehung bedeutet, welche die Wiederverheirateten verbindet. Die
Tatsache, dass diese Beziehungen oft mit Verantwortungssinn und Liebe zueinander und
zu den Kindern gelebt werden, entgeht der Kirche und ihren Hirten nicht. Es gibt also
kein Urteil über die Personen und ihr Leben, aber eine notwendige Norm angesichts der
Tatsache, dass diese neuen Bindungen in ihrer objektiven Realität das Zeichen der
einzigartigen, treuen, unteilbaren Liebe Jesu zur Kirche nicht ausdrücken können.
Es ist klar, dass sich diese Norm, die den Zugang zur eucharistischen Kommunion regelt,
nicht auf Eheleute in der Krise oder einfach Getrennte bezieht: Gemäss den geforderten
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geistlichen Dispositionen können diese Personen regulär die Sakramente der Busse und
der Eucharistie empfangen. Dasselbe gilt natürlich auch für denjenigen/diejenige, der/die
ungerechterweise in die Scheidung einwilligen musste, die religiös gefeierte Heirat aber
als die einzige seines/ihres Lebens betrachtet und ihr auch treu sein will.
Die Meinung ist also falsch, dass die Norm, welche den Zugang zur eucharistischen
Kommunion regelt, bedeute, die Wiederverheirateten seien aus dem Leben des Glaubens
und der Liebe im Innern der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen.
Im Herzen des Glaubenslebens – im Zeichen des Wartens
Das christliche Leben gipfelt sicher in der vollen Teilnahme an der Eucharistie. Aber es
ist nicht nur auf seinen Höhepunkt reduzierbar. So wie eine Pyramide, auch wenn sie
ihres Gipfels beraubt ist, nicht zusammenbricht, sondern stehen bleibt.
Es ist sicher von einzigartiger Wichtigkeit und grosser Bedeutung, wenn die Christen in
der Messe kommunizieren können. Aber der Reichtum des kirchlichen Lebens in
Gemeinschaft besteht aus vielen Dingen, an welchen alle teilhaben können. Er bleibt zur
Verfügung und in Reichweite auch derjenigen, die nicht zur Kommunion gehen dürfen.
Die Teilnahme an der Eucharistiefeier am Tag des Herrn bringt vor allem ein
aufmerksames Hören des Wortes Gottes und die gemeinsame Anrufung des Heiligen
Geistes mit sich, damit wir sein Wort wieder in Treue leben können in der Erwartung des
Herrn, der kommt.
Im Besonderen ist es die Erwartung des wiederkommenden Herrn und der endgültigen
Begegnung mit ihm. Er ist im Herzen des christlichen Glaubens, wie es uns die Kirche
in ihrer Liturgie unmittelbar vor der eucharistischen Kommunion sagt: “in der
Erwartung, dass sich die selige Hoffnung erfüllt und unser Retter Jesus Christus kommt.”
Er ist tatsächlich schon gekommen, aber er muss noch kommen und die Glorie seines
Reiches der Liebe in Fülle offenbaren. Und wir sind schon Kinder Gottes, aber das, was
wir wirklich sind, ist noch nicht in seinem ganzen Glanz offenbar.
Ich bitte Euch also, dass ihr mit Glauben an der Eucharistiefeier teilnehmt, auch wenn
Ihr nicht zur Kommunion gehen könnt: Es wird für Euch ein Ansporn sein, in Euren
Herzen die Erwartung des Herrn, der kommen wird, zu verstärken und den Wunsch, ihm
persönlich zu begegnen mit allem Reichtum und aller Armut unseres Lebens. Vergessen
wir nie: Die Messe bedeutet in ihrem Wesen immer eine “geistige Kommunion”, die uns
mit dem Herrn und, in ihm, mit unseren Brüdern und Schwestern vereint, die sich um
seinen Tisch versammelt haben.
In einem seiner letzten Schreiben sagt Papst Benedikt XVI., nachdem er wieder bestätigt
hat, dass die Wiederverheirateten nicht zur eucharistischen Kommunion zugelassen sind,
dass diese “weiterhin, trotz ihrer Situation, zur Kirche gehören, die ihnen mit einer
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speziellen Aufmerksamkeit folgt im Wunsch, dass sie, soweit es ihnen möglich ist, einen
christlichen Lebensstil in der Teilnahme an der Heiligen Messe pflegen, ohne die
Kommunion zu empfangen: das Hören des Wortes Gottes, die eucharistische Anbetung,
das Gebet, die Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben, das vertrauliche Gespräch mit
einem Priester oder geistlichen Führer, die Hingabe an die Nächstenliebe, die Werke der
Busse, die Erziehung der Kinder” (Sacramentum caritatis, Nr. 29).
Ich bitte Euch Wiederverheiratete also, Euch nicht vom Glaubensleben und vom Leben
der Kirche zu entfernen.
Ich bitte Euch, am Tag des Herrn an der Eucharistiefeier teilzunehmen.
Auch an Euch geht der Ruf zu einem neuen Leben, das uns im Heiligen Geist gegeben
ist.
Die vielen Mittel der göttlichen Gnade stehen auch zu Eurer Verfügung.
Auch von Euch erwartet die Kirche eine aktive Präsenz und eine Bereitschaft, denen zu
dienen, die Eurer bedürfen.
Und ich denke vor allem an die grosse Aufgabe der Erziehung, zu der viele von Euch als
Eltern gerufen sind, und die Aufgabe der Sorge um gute Beziehungen mit den
Herkunftsfamilien.
Dann denke ich an das einfache Zeugnis eines christlichen Lebens in Treue zum Gebet
und zur Nächstenliebe, auch wenn es mit mancherlei Leid verbunden ist.
Und schliesslich denke ich an Euch selbst, die Ihr, ausgehend von Eurer konkreten
Erfahrung, eine Hilfe sein könnt für andere Brüder und Schwestern, die gleiche oder
ähnliche Erfahrungen durchleben wie Ihr.
Angesichts der Situation von einigen von Euch wiederhole ich im Speziellen, was
Johannes Paul II. geschrieben hat: “Aber auch der Wert des Zeugnisses jener Ehegatten
muß Anerkennung finden, die, obwohl sie vom Partner verlassen wurden, in der Kraft
des Glaubens und der christlichen Hoffnung keine neue Verbindung eingegangen sind.
Auch diese Ehegatten geben ein authentisches Zeugnis der Treue, dessen die Welt von
heute sehr bedarf. Die Hirten und Gläubigen der Kirche schulden ihnen Ermutigung und
Hilfe” (Familiaris corsortio, Nr. 20).
Indem ich mir die Worte der Bischöfe der anderen Kirchen der Lombardei zu eigen
mache, bitte ich mit Euch allen den Heiligen Geist, “dass er uns Gesten und prophetische
Zeichen eingebe, welche allen klar machen, dass niemand von der Barmherzigkeit
Gottes ausgeschlossen ist, dass nie jemand von Gott verlassen ist, sondern immer
gesucht und geliebt. Das Wissen, geliebt zu sein, macht das Unmögliche möglich” (Brief
an die Familien, Nr. 28).
Der Herr, der in unserer Mitte ist, ist Euch nahe
Ich schliesse nun meinen Brief, mit dem ich versucht habe, mit meinem Herzen Eurem
Herzen nahe zu sein, liebe Eheleute, die Ihr schwierige Situationen durchlebt,
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Krisensituationen, Scheidungssituationen oder die Ihr nach Eurer Scheidung zivil
geheiratet habt.
Ich habe sicher nicht den Anspruch, alles verstanden zu haben, was in Eurem Herzen ist,
noch Antwort auf alle Eure Fragen gegeben zu haben!
Und trotzdem glaube ich, dass wir ein Gespräch begonnen haben, in dem wir uns mit
mehr Wahrheit und gegenseitiger Liebe verstehen können. Ich hoffe, dass dieses
Gespräch weitergehe mit der Einfachheit und Liebe, die mich beim Schreiben dieses
Briefes geleitet haben. Ein gute Möglichkeit könnte das Gespräch mit Euren Priestern
sein.
Ich lade Euch ein, sie aufzusuchen, mit ihnen zu sprechen, Vertrauen in sie zu haben.
Vielleicht wird es für einige von Euch nicht einfach sein, wieder eine freudvolle
Beziehung zur Kirche aufzubauen, ausser ihr sprecht in aller Freiheit und in allem Ernst
mit einem Priester Eures Vertrauens.
Bittet die Priester nicht, Euch einfache Lösungen oder oberflächliche Wege zu zeigen.
Sucht in Euren Priestern Brüder, die Euch helfen, den Willen Gottes mit Einfachheit und
Glauben zu hören und zu leben: Mit Euch sollen sie das Wort Gottes verstehen, welches
herausfordernd, aber immer lebendigmachend ist; sie seien Euch eine Hilfe,
vorwärtszugehen, auch in diesen Momenten, in der Einheit mit der Kirche.
Immer im Hinblick auf das Gespräch wünsche ich Euch von Herzen, dass Ihr auch
Ehepaaren und christlichen Familien begegnet, die, reich an Menschlichkeit und
Glauben, Euch empfangen, Euch zuhören können und mit Euch auf dem Weg gehen, auf
den wir alle im Leben gerufen sind: den Weg der Liebe zu Gott und zum Nächsten.
Ich danke Euch, dass Ihr mich wirklich in Eurem Haus empfangen habt.
Ich bitte mit Euch den Herrn, dass wir immer, alle miteinander wie Brüder und
Schwestern in der gleichen Kirche, die tröstende und ermutigende Gewissheit erfahren,
dass “der Herr den zerbrochenen Herzen nahe ist” (Psalm 34,19) und dass er immer in
unserer Mitte ist!
+ Dionigi card. Tettamanzi
Erzbischof von Mailand
Mailand, Epiphanie des Herrn 2008
http://www.bistum-chur.ch/wp-content/uploads/2013/12/Tettamanzi.pdf
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