„Der Papst ist höchstens besorgt, wenn sich nichts bewegt“

“Seine tiefe Verwurzelung in Gott gibt ihm diese Gelassenheit – und das ist das, was mir an ihm am meisten auffällt”

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Papst Franziskus in Auschwitz und bei den Flüchtlingen auf Lesbos, die Veröffentlichung von „Amoris Laetitia“, das historische Treffen mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill auf Kuba, der Besuch in Schweden zum 500. Tag des Reformationsgedenkens, und über allem das Ausserordentliche Heilige Jahr der Barmherzigkeit: das war das Jahr von Papst Franziskus in der Bilanz, die Radio Vatikan im Interview mit Pater Antonio Spadaro zieht. Der Chefredakteur der Jesuitenzeitschrift „La Civiltà Cattolica“ gilt als Vertrauter des Papstes. Auf die Frage, warum Franziskus in Auschwitz, auf Lesbos und auch beim Besuch im italienischen Erdbebengebiet das Schweigen und das Zuhören wählte, sagte Spadaro:

„Franziskus will nicht das Leid erklären, das heisst, er will das Leid der Welt nicht mit Gott rechtfertigen, wie die alte Theodizee (die Frage, warum Gott das Leid zulässt, Anm.) das tat. Vielmehr möchte er zeigen, dass Gott der leidenden Menschheit immer nahe ist. In Stille zu verharren bedeutet also nicht, ein paar gutgemeinte milde Antworten anzubieten, die auf Distanz zum Leid gehen. In Stille verharren heisst, die Hand auszustrecken mit einer sozusagen therapeutischen Geste. Und das ist eine Geste, die der Papst mehrmals gemacht hat, Menschen gegenüber, sogar Mauern gegenüber, in Auschwitz und in Betlehem (an der Trennmauer zwischen Israelis und Palästinensern). Der Papst liebkost die Wunden, weil das der Weg ist, sie zu heilen. Im Grund ist das Kreuz Christi genau das: dieses Leid auf sich nehmen, das die Menschheit trägt. Das ist also kein leeres Schweigen: es ist ein Schweigen der Nähe.“

„Amoris Laetitia“ erschien im März dieses Jahres. Das päpstliche Schreiben zu Ehe und Familie nach den beiden dazu abgehaltenen Bischofssynoden von 2014 und 2015 rief grosses Interesse hervor, sorgte aber auch für Kritik aus dem Inneren der Kirche. Zuletzt veröffentlichten vier Kardinäle in einem Brief eine Reihe kritischer Anfragen an den Papst, die als „Dubia“ bekannt wurden. Den Papst sorgt dieser Vorgang nicht, erklärt Pater Spadaro:

„Papst Franziskus hat mehrmals gesagt, dass der Konflikt zum Leben gehört, er ist also von grosser Bedeutung in kirchlichen Prozessen. Der Papst ist höchstens dann besorgt, wenn sich nichts bewegt, wenn keine Spannungen auftreten, mitunter wenn es keine Oppositionen gibt. Wenn also der Prozess echt ist, dann schafft er Spannung. Amoris Laetitia ist ein ausserordentliches Dokument, weil es im Grund nicht nur das Volk Gottes, sondern den einzelnen Gläubigen in den Mittelpunkt der Beziehung zwischen Mensch und Gott stellt. Die Unterscheidung wird somit als grundlegendes Kriterium präsentiert – und die Familie als zentraler Kern der heutigen Gesellschaft. Da werden so viele Themen berührt: die Familie als Kern, aber auch die vielen Situationen des Bruchs und der Krise: über sie schreibt der Papst und weiss dabei, dass der Herr zu jedem Menschen spricht und dabei auf seine Glaubensgeschichte schaut. Hier werden also nicht absolute und abstrakte Regeln und Normen erlassen, die für jede Situation gelten. Sondern diese apostolische Exhortation ist die Einladung an jeden Hirten, dem einzelnen Gläubigen nahe zu sein.“

Was ihn in den vergangenen 12 Monaten besonders an Franziskus überrascht habe, wollte Radio Vatikan noch von Pater Spadaro wissen.

„Vielleicht seine heitere Gelassenheit. Es ist ein Jahr, in dem zumindest in einigen Kreisen Konflikte aufgetreten sind. Der Papst ist immer gelassen, er regt sich nicht auf. Er merkt, was rund um ihn geschieht, auch die Dinge, die ihm weniger gefallen. Aber er verliert den Frieden nicht. Er sagt, er isst gut, er schläft gut, ich kann auch sagen: er betet sehr viel. Seine tiefe Verwurzelung in Gott gibt ihm diese Gelassenheit – und das ist das, was mir an ihm am meisten auffällt.“

rv 30.12.2016 gs

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