Die Gewalt der Transparenz

Überall ertönen die Rufe nach Durchsichtigkeit und Offenheit

George OrwellDoch die politische Salonvokabel gehört auf den Prüfstand.

Die Tagespost, 02. Mai 2014, Von Björn Hayer

Gläsern soll die neue Welt sein, ein Paradies, wo jeder mit jedem vernetzt sein kann. Im Internet scheint der Traum von der offenen Menschheitsfamilie lebbar. Wo Skeptiker einst noch den Schutz der Privatsphäre beschworen, werden heutzutage fleissig Profile gepflegt. Mit allerhand persönlichem Fundus nährt der Homo Cyber das grosse Google. Der moderne Online-Mensch ist eben transparent und – wie man ihm vermittelt – damit der Vorzeigedemokrat der Zukunft. Bis zuletzt kam dabei auch keine Partei mehr umhin, sich das Primat der umfassenden Transparenz nicht in irgendeiner Form auf die Fahnen zu schreiben. Die Apologeten der Demokratie 2.0 predigten euphorisch: Transparenz sei ein Bürgerrecht.

Erst die Debatte um “Prism”, abgehörte Regierungschefs und die Sammelwut der Black Box NSA liessen die Unkenrufe nach Transparenz ein wenig leiser werden. Denn zu viel des Guten kann, so zeigt die globale Datenaffäre, vom Ziel der Grundrechtswahrung schnell ins Gegenteil umschlagen. Zwar mag man den amerikanischen Geheimdiensten bestenfalls noch zugute halten, dass sie Daten sammeln, um wiederum ihre nötigen Pflichten zu erfüllen – nämlich Terrorismus und Sicherheitslücken vorzubeugen. Aber nicht jeder Zweck heiligt bekanntermassen alle Mittel. Und selbst die scharfzüngigen Ankläger der Datenkrake, die ansonsten stets auf mehr Transparenz in allen Fragen politischer Prozesse pochen, um dem Bürger zu seiner Kontrollfähigkeit gegenüber dem Staat zu verhelfen, geraten nun in die Defensive. Die Forderungen nach umfassender Einsicht in sämtliche Winkel des politischen Alltags dürften sich nun als Vorstufe der weltweiten Ausspähungen entpuppen. Allmählich scheint sich zu bewahrheiten: Jedem Ruf nach Transparenz haftet – selbst in Demokratien – ein diktatorischer Unterton an. Wer auf Durchsichtigkeit in allen politischen und sozialen Kontexten insistiert, der strebt – gewollt oder ungewollt – eine Gesellschaftsform allseitiger Observation an. Denn auch eine strengere Überwachung, wie sie doch oftmals vehement für Gehaltslisten von Parteifunktionären und Abgeordneten eingefordert wird, schlägt potenziell in eine Atmosphäre der Denunziation um. Gleichzeitig bilden sich aus der Blickdisposition des bürgerlichen Wächters Kategorien heraus, welche letztlich zur Einebnung von Individualität beitragen. Wenn wir auf Missstände ein Auge werfen wollen, doch nur, um zu prüfen, ob die Geschehnisse tatsächlich unserem Wertekanon entsprechen.

Was sich in diesem Regime des permanenten medialen Beobachtens und Beobachtetwerdens ausserhalb der von der Öffentlichkeit getragenen Norm bewegt, fällt nicht nur auf, sondern wird gleichsam zur Anpassung, ja Uniformisierung gezwungen. So benötigt und produziert die Transparenzlogik unentwegt objektive Kriterien, anhand derer sie uns vorspiegelt, die Wirklichkeit messen zu können. Aber wer soll sie bestimmen? Und was folgt daraus beispielsweise für das hohe Prinzip des freien Mandats des Abgeordneten? Natürlich, jeder gewählte Parlamentarier ist dem Souverän Rechenschaft schuldig. Dennoch ist er kein blosser Prozessor, dessen Verhalten technisch determiniert wird, sondern ein Subjekt mit persönlichen Einstellungen, die gerade in Gewissensfragen keiner Kontrolle unterliegen. Doch inzwischen ist ein Parlamentarier in jeder Hinsicht zur Offenbarung verpflichtet. Die Causa Edathy zeigt anschaulich, wie gläsern der heutige Abgeordnete schon geworden ist. Keine Frage: Der Rechtsstaat muss bei jedem Anfangsverdacht in Sachen Kinderpornografie reagieren. Doch die weitestgehend öffentliche Demontage einer Person, deren innerste Geheimnisse wie auf einem Marktplatz zur Schau gestellt werden, kann ebenso wenig Anliegen eines auf den Schutz der Würde einer jeden Person gebauten Gesellschaftsfundamentes sein.

Die Durchsichtigkeit aller Lebensbereiche, wie sie mit Facebook, aber auch etwa mit dem Programm der Piratenpartei verbunden sind, schafft eben keine schöne, neue Epoche der Freiheit. Indem manch einer für allumfassende Transparenz der Emanzipation wegen plädiert, errichtet er in dieser Rigorosität zugleich, wie der viel gelobte Band “Transparenzgesellschaft” (2012) des südkoreanischen Philosophen Byung-Chul Han eindrucksvoll belegt, ein neues Gefängnis. Dieses ist ein inneres, das von aussen auf uns starrt und uns allzeit die Keule eines Rousseau’schen allgemeinen Willens vor Augen führt. Von der offensichtlichen, durch einen klaren Sittenkodex charakterisierten Überwachungsgesellschaft, wie sie noch Foucault beschrieben hat, ist nichts mehr zu spüren. Die sozialen Hierarchien, die einst mit dem Hegel’schen Gegensatzpaar aus Herr und Knecht funktionierten, gehören der Vergangenheit an. Durch die Gewalt der Transparenz hat sich der gegenwärtige Homo Cyber vielmehr einer selbst gesteuerten Knechtschaft unterworfen. Die externe Überwachungsmaschinerie, die allen voran durch soziale Netzwerke und deren selbsternannten Cyber-Utopisten in Gang gehalten wird, zieht sodann in unseren Denkkosmos ein und kristallisiert sich in einer inneren Stasi, in der Obsession, uns ständig selbst kontrollieren zu müssen, heraus.

Einerseits fühlen wir uns zwar ausgehorcht, durchleuchtet, fragen uns, ob nicht doch jemand bei unseren Einkäufen im Netz oder dem Online-Banking zusieht. Andererseits – und darin tritt das fatale Paradox zutage – sind wir selbst zu Komplizen einer neuen Aufmerksamkeitsgesellschaft geworden. Indem der suggestive Druck der Transparenz auf uns einwirkt, sehen wir uns dazu berufen, sämtliche Daten zu veräussern. Urlaubsbilder, Beziehungsstatus, Launen und Eskapaden – all dies findet sich auf Facebook-Pinnwänden wieder. Ordnet man sich diesem Trend der dauerhaften, persönlichen Veröffentlichung nicht unter, so gerät man ins Abseits. Die schlimmste Strafe besteht heute darin, nicht dazuzugehören, nicht im Lichtkegel der medialen Personeninszenierung zu stehen. Jene Affinität zur Selbstausstellung geht sogar soweit, dass sie von existenzieller Bedeutung zu sein scheint. Da sich ein Grossteil des menschlichen Lebens inzwischen in virtuelle Weiten verlagert hat, ist auch das Menschenbild längst an eine Präsenz auf dem Bildschirm gebunden. Sich nicht in einschlägigen sozialen Foren zu bewegen, nicht selbst Teil der Darstellungsmaschinerie zu sein, ist mit dem Verlust des Menschseins an sich verbunden.

Die mediale Zeichenwelt hat die Realität gemäss Jean Baudrillard unlängst ersetzt. Wer demzufolge nicht den Übergang in die Cyberparadiese vollzogen hat, ist schlichtweg nicht existent. Byung-Chul Han sieht hierin insbesondere das ökonomische Diktat der Verwertbarkeit wirken. Gerade die grossen Online-Konzerne, die uns scheinbar alles zum Nulltarif bieten – Nachrichten, Spiele und Unmengen an Kontakten – laden en passent zu ständigen Meinungskundgebungen ein. Die Surfer von heute “liken“ alle möglichen Produkte und liefern damit unbemerkt das Material zur Erstellung spezifischer Konsumprofile. Von der ursprünglichen Idee, durch umfassende Transparenz Freiheit zu ermöglichen, ist nichts geblieben. Stattdessen ziert die üble Fratze einer wirtschaftlichen Nutzbarmachung von Gedanken, Einstellungen und überhaupt jeglichem Seelengut die schillernden Paläste der Transparenzgesellschaft. Aufgrund des Interesses an leicht auswertbaren Informationsströmen arbeiten die Datenmogule an der Bildung von Mainstream und Norm mit, indem sie beispielsweise die Ergebnisse von Umfragen aus den “Like-Buttons” öffentlich machen. Kein Zweifel: Die Transparenz kennt weder Ecken noch Kanten. Sie ist nur dort effektiv, wo keine Unebenheiten vorkommen.

Zur Wahrung unserer Autonomie bedarf es daher des Mutes zum Widerstand und einer inzwischen überfälligen Hinterfragung der Salonvokabel. Erst der Umkehrschluss aus einer wünschenswerten Transparenzskepsis läuft auf eine Gesellschaft mit Schattierungen und bewussten Graubereichen hinaus. Diese Diversität kann eine neue Stärke sein. Sie beherbergt Provokateure wie Mainstreamer gleichermassen. Nur dort, wo auch im Stillen – das gilt für das politische, wirtschaftliche wie private Leben unisono – noch Gedankengänge erprobt werden können, ohne sofort durch die Evaluierungsscanner von “Like-“ oder “Dislike-Buttons“ genudelt und abgeschliffen worden zu sein, kann Innovation entstehen. Ohne die Möglichkeit eines privaten Rückzugs hätten Garagentüftler und öffentlichkeitsscheue Genies wohl nie eine Chance gehabt. Die Transparenz bedingt Stillstand, sie leuchtet in unser Innerstes, bis wir völlig durchsichtig sind und nur noch das Nichts sich offenbart.

Im Verborgenen lag und liegt dem gegenüber immer schon der Inspirationsquell, weil es Melancholie und Aktivismus gleichermassen beherbergt. Ein wenig Intransparenz macht das Leben also überhaupt erst spannend und vielschichtig. Gleichzeitig bietet sie eine geschützte Zone des Austestens jenseits von Sanktion und Ausschluss. Selbst wenn wir es nicht gern hören, aber auch für die Politik erscheint ein solches Terrain trotz des NSA-Schocks unumgänglich. Insbesondere die Diplomatie und die bilateralen Staatenbeziehungen sind auf Verhandlungsspielräume angewiesen. Im Angesicht einer stets beäugenden Öffentlichkeit würde jeder politische Gesprächspartner alles dafür tun, sich keine Blösse zu geben. Die Fronten wären damit verhärtet und unbeweglich. Die Transparenz würde nichts ausser dauerhafter Entwicklungslosigkeit hervorrufen.

Je mehr sich auch der Fortschritt unter der Maske von Fürsorge und Prävention der Idee der omnipräsenten Anwesenheit des Überwachers und Nachvollziehbarkeit von Wegen und Handlungen des Überwachten verschreibt, desto enger wächst ein Korsett um unsere Entfaltung. Zu viel Transparenz verschliesst die Türen nötiger Ab- und Umwege. Irgendwann werden Kinder, die in ihren Mini-Handys GPS-Chips haben werden, womöglich keine Suche nach Piratenschätzen oder geheimen Indianersiedlungen mehr unternehmen können. Denn Big Mother weiss über ihre transportablen Flachbildschirme oder bald vielleicht durch die GoogleGlass-Brille, verbotene Abbiegungen frühzeitig alles zu erkennen. Auch die Verheimlichung von Affären und sonstigen Tabus wird schwieriger, wenn alle Wege allen bekannt sind. Wollen wir eine technisch aufgezwungene Moral? Dass wir mehr Transparenz in einigen demokratischen Strukturen, allen voran was die Entscheidungsgänge auf der EU-Ebene anbelangt, brauchen, ist unbestritten. Doch um welchen Preis fordern dies die Anwälte der Transparenzgesellschaft ein? In jedem Fall um den des Geheimnisses – einen Wert, den gerade die digitale Revolution aus unserem Gedächtnis verschwinden lässt. Die sich immer weiter ausbreitende Pornografie im Internet mag dafür ein Indikator sein. Die Transparenz, welche das Private zunächst inflationiert und dann auslöscht, entpuppt sich so als pornoider Blick. Er stellt um der Ausstellung selbst aus, er ist ein Blick, der allein die Oberfläche feiert und keinen tieferen Wert hervorbringt.

Angesichts solcher Erkenntnisse sollten wir beginnen nachzudenken. Doch einige und insbesondere die Lobbygruppen um Google, Amazon und Facebook wollen derzeit nicht nur reines und zwar astreines Wissen über uns, sondern sie streben danach, es völlig zu kontrollieren. Trotz “Prism“ klingt Transparenz für manche noch immer zu verlockend. Aus deren Sicht darf niemand sich dem die Gesellschaft vor Heimlichtuerei schützenden Drang der Offenbarung widersetzen. Transparenz gilt für alle oder keinen, für alles oder nichts. Sich dem zu entziehen, heisst zukünftig schlimmstenfalls, das Misstrauen anderer auf sich zu ziehen. Das Netz hat schon vieles in dieser Hinsicht möglich gemacht und es wird auch morgen die Welt noch gläserner machen, als sie ohnehin schon geworden ist. Dagegen kleine Inseln der Intransparenz zu fordern, bedeutet somit wohl zunehmend, das Attribut des Kulturpessimisten mit sich herumzutragen. Doch diese Haltung ist keine genuin reaktionäre. Denn sie verurteilt keinen Fortschritt in welcher Hinsicht auch immer. Im Gegenteil: Sie weiss um die Bedingungen, die Fortschritt überhaupt erst möglich machen.

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