Politik der Einschüchterung

Ein ganzer Staatsapparat ist mit einer Politik der Einschüchterung beschäftigt

Putinisierung der Ukraine

Die Tagespost, 22. Januar 2014

Ukraines Caritas-Präsident Andrij Waskowycz sieht weiterhin keine Bereitschaft bei Viktor Janukowitsch, mit der Opposition ernsthaft zu verhandeln. Von Clemens Mann

Herr Waskowycz, Oppositionsführer Klitschko hat jüngst erklärt, er habe die Oppositionsbewegung nicht mehr unter Kontrolle. Die Stimmung auf dem Maidan sei zunehmend “wie im Krieg”. Heute morgen soll der Konflikt zwei Menschenleben gefordert haben. Einige Beobachter sprechen bereits von einem Bürgerkrieg. Teilen Sie diese Einschätzung?

Die Gewalt hat in der letzten Zeit zugenommen. Seit vier Tagen hat sich die Situation in der ukrainischen Hauptstadt radikalisiert. Ich will aber nicht den Ausdruck “Krieg” oder “Bürgerkrieg” benutzen. Andere Oppositionspolitiker haben zuletzt betont, dass es sich hier nicht um einen Bürgerkrieg handeln kann, da die Fronten klar aufgeteilt sind auf eine Bewegung, die friedlich begonnen hat und die Einhaltung der Menschenrechte einfordert, sich nun aber radikalisiert hat, und Vertretern verschiedener Sondereinheiten des Staates. Es geht hier nicht wie in einem Bürgerkrieg um zwei Parteien, die verschiedene ideologische Forderungen durchzusetzen versuchen. Ein Oppositionspolitiker hat gestern gesagt, es gebe in der Ukraine keine Leute, die bereit seien, ihr Leben für das Regime von Viktor Janukowitsch zu riskieren. Damit fehlt aber auch eine ideologische Grundlage für eine Auseinandersetzung, die den Namen “Bürgerkrieg” verdient.

Seit Sonntag hat die Gewalt zugenommen. Was hat zu dieser Radikalisierung geführt?

Das hat mehrere Gründe. Der wesentliche Grund ist, dass seit sechzig Tagen die friedlichen Demonstrationen zu keinem Resultat geführt haben. Die Demonstranten sind teilweise frustriert, weil die Regierung und der Präsident nicht auf ihre Forderungen eingehen, nicht bereit sind, über Forderungen zu diskutieren, nicht bereit sind, überhaupt in einen Dialog zu treten, wie man zu einer politischen Lösung in dieser Krise kommen könnte. Stattdessen ignoriert man die Grossdemonstrationen, an denen mehrere hunderttausend Menschen teilnehmen, und tut so, als ob nichts in diesem Land geschähe. Der zweite Grund war die Einführung von Sondergesetzen unter Umgehung der Geschäftsordnung des ukrainischen Parlamentes, die das Recht auf Demonstration beschränken und die Auflagen für zivilgesellschaftliche Organisationen verschärfen. Der dritte Punkt ist dann, dass die Oppositionsführer für diese Sondergesetze keine klare Linie gefunden haben, wie man darauf antworten kann. Bei einer Kundgebung am Sonntag forderten die Demonstranten, strategische Ziele und einen Führer der Bewegung zu benennen. Doch die drei führenden Oppositionspolitiker waren dazu nicht bereit. Sie haben daraufhin die Initiative in die Hand genommen und sind Richtung Regierungsviertel gegangen. In dieser aufgeheizten Stimmung kam es dann zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Miliz. Das heisst: Auch das Fehlen einer klaren Linie seitens der demokratischen Opposition führte zu dieser Radikalisierung.

Glauben Sie, dass sich Janukowitsch gezielt für eine Destabilisierung der Lage einsetzt, um die Sympathien, die man für die Protestbewegung im Aus- und Inland hat, zu erschüttern?

Ich halte das für möglich. Viele Leute aus der Demokratiebewegung sprechen davon, dass die Ausschreitungen am Sonntag zuerst mit einer Provokation begannen, die von der Regierung und dem Präsidenten organisiert war. Allerdings lassen sich diese Vermutungen und Spekulationen nicht bestätigen.

Bestätigt ist aber, dass das Regime gezielt auf eine Einschüchterung der Bevölkerung setzt. Da werden SMS versandt mit dem Hinweis, dass man als Teilnehmer der Protestbewegung registriert wurde. Hochschulen wurden aufgefordert, Listen von Studenten herauszugeben, die an den Protesten teilnehmen…Es gibt wahrscheinlich noch weitere Möglichkeiten. Ein ganzer Staatsapparat ist damit befasst, wie man die Situation beeinflussen kann. Wir dürfen aber das wichtigste nicht vergessen. Schon die Sondergesetze, die am 16. Januar verabschiedet wurden, sind ausgerichtet auf eine Einschüchterung der Menschen. Sie drohen den Menschen mit Konsequenzen, wenn sie an den Demonstrationen teilnehmen. Es werden nicht nur das Demonstrationsrecht massiv eingeschränkt, sondern auch drastische Strafen angedroht, sofern man an einer friedlichen, aber nicht genehmigten Kundgebung teilnimmt. So ist aber eine freie Meinungsäusserung nicht mehr möglich. Was ist das anderes als eine Einschüchterungspolitik?

Die Sondergesetze schränken ja nicht nur das Demonstrationsrecht und die Meinungsfreiheit Einzelner ein, sondern zielen auch auf Nichtregierungsorganisationen ab, die vom Westen finanziert werden. Ein ähnliches Gesetz gab es auch in Russland vor kurzer Zeit. Ein Zufall?

Nein. Alle die Gesetze, die am 16. Januar verabschiedet worden sind, wurden abgekupfert von der russischen Gesetzgebung. Selbst der Begriff, der eingeführt wurde für die Nichtregierungsorganisationen, ist abgekupfert aus der russischen Gesetzgebung. Das heisst, Nichtregierungsorganisationen, die Gelder für ihre Tätigkeit aus dem Ausland bekommen, müssen sich fortan registrieren lassen als ausländische Agenten. Dieser Begriff ist ein absoluter Schmähbegriff. Ein ausländischer Agent im alten sowjetischen System war sozusagen die höchste Auszeichnung für einen Feind des Volkes. Mit diesen Sentiments spielt das Gesetz. Organisationen müssen ja den Begriff auch in ihrem Titel tragen. Ich glaube aber, dass dieses Kalkül nicht aufgehen wird. In der Ukraine ist der Begriff eines ausländischen Agenten nicht so stark belastet wie in Russland. Dass den Nichtregierungsorganisationen aber der Status der Gemeinnützigkeit aberkannt werden soll, verursacht grosse finanzielle Belastungen.

Wie reagiert die katholische Kirche auf die Eskalation?

Das Oberhaupt der ukrainischen katholischen Kirche, Grosserzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, hat gestern per Videoverlautbarung dazu aufgerufen, zurückzukehren zu einer friedlichen Demonstration. Beide Seiten sollten einen kühlen Kopf bewahren für einen Dialog und eine Lösung der Probleme. Er verurteilte vor allen Dingen den Einsatz von Gewalt bei dieser politischen Krise.

Der Appell ist allerdings ohne Konsequenz geblieben. Es gibt weiter Berichte darüber, dass die Regierung Sicherheitskräfte aus alles Landesteilen zusammenzieht, um die Demonstration, notfalls mit Gewalt, aufzulösen. Das sieht nicht danach aus, dass man sich schnell gemeinsam an einem Tisch setzt.

Leider ja. Das Problem ist, dass die Regierung bisher nicht bereit ist, auf höchster Ebene diesen Dialog zu führen. Vitali Klitschko ist vor zwei Tagen, nachdem es zu diesen gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, in die Residenz von Janukowitsch gefahren und hat die Einsetzung einer Kommission gefordert. Daraufhin gab es eine Vereinbarung zwischen Präsidentialamt und Opposition, dass man Voraussetzungen klären wolle. Greifbare Resultate hat es aber bisher nicht gegeben. Ich gehe davon aus, dass sich der Konflikt noch länger hinziehen und auch neue Formen annehmen wird. Ich hoffe, dass es weitestgehend friedliche Demonstrationen bleiben werden.

Ursprünglich hat sich dieser Protest daran entzündet, dass Präsident Janukowitsch ein ausgehandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnete. Dieses primär wirtschaftliche Abkommen ist jetzt aber kein Thema mehr. Hat der Streit spätestens mit der Eskalation der Proteste eine derart neue Qualität angenommen, dass man nun von einer richtungsweisenden Entscheidung sprechen kann, wie sich das Land für die nächsten Jahrzehnte positioniert?

Es geht um einen Richtungskampf, mehr noch um eine zivilisatorische Entscheidung für die Ukraine. Richtet sich die Ukraine auf die Menschenrechte und die demokratischen Systeme des Westens aus oder bleibt sie im Wirkungsfeld Russlands mit seinem autoritären Regierungs-/Staatssystem. Das ist auch die geopolitische Dimension dieses Konfliktes. Es geht darum, ob die Ukraine im Wirkungsfeld Russlands bleibt und somit Russland die Möglichkeit gibt, sich zu einem Superstaat zu machen. Eine Annäherung an die EU würde Putins Idee zunichte machen.

Kann dieser Konflikt ohne Russland gelöst werden?

Eine Lösung ohne Russland wird es nicht geben können. Russland ist unser Nachbar und versuchte schon immer, Einfluss zu nehmen. Bei einer Lösung müssen die Interessen Russlands deshalb auch berücksichtigt werden. Die Frage ist nur: Geht es um die Interessen der Ukraine oder um die Interessen eines sich grossstaatlich gebärdenden Russlands. Umgekehrt könnte das Schicksal der Ukraine auch etwas in Russland selbst bewegen. Der ehemalige Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, Zbigniew Brzeziñski, hat bei Anhörungen im amerikanischen Senat zu der ukrainischen Frage vor einer Woche davon gesprochen, wenn in der Ukraine die Demokratie-Bewegung die Oberhand gewinnt, ist das auch eine grosse Chance für Russland, denn dadurch könnte sich auch ein Demokratisierungsprozess in Russland einleiten.

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