Das gehört in die Rubrik ‘Manipulation’

Fakten, die nicht ins (Feind-)Bild passen, werden grosszügig ignoriert

In ihrer selektiven Wahrnehmung hat die veröffentlichte Meinung ihren Blick ganz auf die römisch-katholische Kirche konzentriert. Fakten, die nicht ins (Feind-)Bild passen, werden grosszügig ignoriert.

Gastkommentar von Gernot Facius

Berlin, kath.net, 21. Januar 2013

Die Nachricht war nur wenigen Blättern eine längere Notiz wert: 61 Fälle von sexueller Gewalt in den eigenen Reihen sind der Evangelischen Kirche im Rheinland, zweitgrösste Landeskirche der EKD, in den vergangenen zweieinhalb Jahren gemeldet worden.

41 Opfer hätten sich offenbart, aber auch zwei Täter, berichtete die Leiterin der Anlaufstelle für derartige Fälle. Die Namen weiterer Täter seien durch Vorgesetze oder Mitarbeiter bekanntgegeben worden, 23 Fälle seien verjährt, 19 stammten aber aus den vergangenen drei Jahren. “Dass Menschen bei uns Opfer geworden sind, beschämt mich zutiefst”, kommentierte Vize-Präses Petra Bosse-Huber die “menschenverachtenenden und gotteslästerlichen” Vorgänge. 43 der Beschuldigten seien zur Tatzeit bei der Kirche oder ihren diakonischen Einrichtungen beschäftigt gewesen.

Wie gesagt: Die berichteten Missbrauchsfälle betreffen allein die evangelische Kirche im Rheinland. Aber anderen Landeskirchen, und auch protestantischen Freikirchen, dürfte das Phänomen der sexuellen Gewalt nicht unbekannt sein. Es produziert hier nur wenige Schlagzeilen. In ihrer selektiven Wahrnehmung hat die veröffentlichte Meinung ihren Blick ganz auf die römisch-katholische Kirche konzentriert. Fakten, die nicht ins (Feind-)Bild passen, werden grosszügig ignoriert. Die katholischen Bischöfe sind, was die Forschung nach den Ursachen und die Prävention angeht, weiter als manche andere gesellschaftliche Institution, auch wenn sie sich in ihrer medialen Unbeholfenheit in einen – eigentlich vermeidbaren – Methodenstreit verstricken lassen, zum Beispiel mit dem Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer. Die “Aufklärer” von eigenen Gnaden in den Print- und digitalen Medien suchen seit Tagen ihrem Publikum zu suggerieren, dass es sich bei dem Missbrauchsphänomen um ein spezifisch katholisches Problem handelt. Bei vielen Kommentatoren ist ein antikatholischer, wenn nicht gar antkirchlicher Komplex nicht zu übersehen. Und natürlich muss der – zugegeben selbst innerkatholisch zunehmend umstrittene – Zölibat herhalten, die Bischöfe auf die Anklagebank zu setzen.

Dabei zeigt gerade die Erschütterung evangelischer Amtsträger über skandallöse Vorgänge in den eigenen Reihen, dass nicht einseitig der Zölibatsverpflichtung von Klerikern die Schuld an den Missbrauchsfällen gegeben werden kann: Sexuelle Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es lässt sich nicht auf Zölibatäre beschränken, es betrifft Verheiratete genauso; wer ehrlich ist, wird das nicht in Abrede stellen wollen. Hat nicht Anfang Dezember 2012 ein Team um den Essener Psychiater Professor Norbert Leygraf den Nachweis geführt, dass es unter Geistlichen keine auffällige Häufung von Pädophilie gibt? All das ist kein Freispruch und kann nie und nimmer der Beschönigung des in katholischen Pfarreien und Einrichtungen Vorgefallenen dienen, aber die differenzierten Befunde relativieren die masslosen Angriffe der jüngsten Zeit. Dass die von den Bischöfen aus der Defensivposition heraus kommunizierte Kündigung des 2011 mit Professor Pfeiffer vereinbarten Forschungsauftrages “Sexueller Missbrauch durch Priester” schlagzeilenträchtig in einen “Stopp der Aufklärung” umgedeutet wurde, gehört jedoch in die Rubrik Manipulation. “Kirche stoppt Pfeiffer” hätte es korrekterweise heissen müssen. Zumal da es nicht an Stimmen von anderen namhaften Kriminologen mangelte, die ihrem Hannoveraner Kollegen forschungsethische Mängel attestierten. Aber auch das wurde in der Berichterstattung kaum zur Kenntnis genommen. Es ist eben leichter, ein Atom zu zertrümmern als ein gängiges Vorurteil.

Gernot Facius im kath.net-Interview: “Es muss auch die Gottesfrage thematisiert werden!

Gernot Facius (70) arbeitete 36 Jahre und drei Monate für die WELT, von 1976 bis Ende 2007 u.a. als Nachrichtenchef und stellvertretender Chefredakteur, und bis Ende 2012 als fester Autor. Er war neun Jahre Mitglied der Jury des katholischen Journalistenpreises. Von der Konferenz Evangelikaler Publizisten wurde der Katholik mit dem “Goldenen Kompass” für vorbildliche Kirchenberichterstattung ausgezeichnet.

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