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Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern

Tagespost, 11.01.2012

Die Abhängigkeit der Familienpolitik von der Arbeitsmarktpolitik und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – “Familiaris Consortio”-Serie Teil XIII. Von Manfred Spieker

Das Jahr 2012 wird gesellschaftspolitisch von der Auseinandersetzung um das Betreuungsgeld geprägt werden. Dies vorherzusagen bedarf es nach den Stellungnahmen verschiedener Politiker, Verbandsvertreter und Wirtschaftsforschungsinstitute zum Jahreswechsel keiner prophetischen Gaben. In dieser Auseinandersetzung geht es nicht nur um eine den Bundeshaushalt belastende sozialpolitische Leistung, sondern um die Stellung, die der Familie in unserer Gesellschaft eingeräumt wird. Es geht um die Bedeutung von Artikel 6, Absatz 2 des Grundgesetzes: “Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht”. Es geht um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Darüber hinaus geht es um die Frage, wie ernst CDU und CSU das christliche Menschenbild nehmen, das sie nicht müde werden zu beschwören und das ein knappes Drittel ihrer Bundestagsabgeordneten bei der Entscheidung über die Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik am 7. Juli 2011 einmal mehr missachtet hat. Das christliche Menschenbild ist vom christlichen Bild von Ehe und Familie nicht zu trennen. Ein Blick in das Schreiben Johannes Pauls II. über die Aufgabe der christlichen Familie in der Welt von heute “Familiaris Consortio” würde den Abgeordneten helfen, die Auseinandersetzungen um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie um das Betreuungsgeld zu entideologisieren und auch die Familienpolitik aus ihrer Abhängigkeit von der Arbeitsmarktpolitik zu befreien.

In diese Abhängigkeit ist die Familienpolitik schon in der Regierung Schröder zu Beginn des neuen Jahrhunderts geraten. Das von der Grossen Koalition verabschiedete und am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Elterngeldgesetz hat diese Abhängigkeit dann besonders stark zum Ausdruck gebracht. Es diskriminiert die nicht erwerbstätigen Mütter und privilegiert jene, die voll erwerbstätig sind. Im Zentrum dieses Gesetzes steht nicht die Familie, schon gar nicht der Schutz und die Förderung des Kindes, sondern die erwerbstätige Frau, die zwölf Monate nach der Geburt eines Kindes wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen oder diesem möglichst gar nicht entzogen werden soll, erlaubt das Gesetz doch in Paragraf 15, Absatz 4 während der Bezugsdauer des Elterngeldes noch eine Erwerbstätigkeit von bis zu 30 Stunden wöchentlich. Aus der demographischen Entwicklung, konkreter der Vergreisung der Gesellschaft, ziehen Bundesregierung und Wirtschaft den Schluss, dass das Potenzial an weiblichen Erwerbstätigen dem Arbeitsmarkt erschlossen werden müsse.

In ihrer Stellungnahme zum 7. Familienbericht bekannte sich die Bundesregierung 2006 nicht ohne Stolz zu einem “Paradigmenwechsel” in der Familienpolitik, der sich an der “Erwerbsintegration von Frauen” und am verstärkten Ausbau einer “Infrastruktur für Bildung und Betreuung” orientiert. In diesen Paradigmenwechsel fügt sich auch das Kinderförderungsgesetz ein, das am 16. Dezember 2008 in Kraft trat und die Kommunen verpflichtet, bis Juli 2013 für 35 Prozent der unter dreijährigen Kinder Betreuungsplätze vorzuhalten. Angesichts der Geburtenentwicklung in den vergangenen fünf Jahren mit etwa 675 000 Geburten pro Jahr bedeutet das Ausbauziel des Kinderförderungsgesetzes von 750 000 Plätzen in Wirklichkeit aber, dass für fast zwei Drittel der ein- und zweijährigen Kinder Krippenplätze vorgesehen sind. Die CSU setzte bei der Verabschiedung des Gesetzes jedoch durch, dass ab 2013 “für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung (zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt werden” soll. Bei ihrer jüngsten Klausur-Tagung in Wildbad Kreuth in der ersten Januarwoche hat sie einmal mehr erklärt, am Betreuungsgeld festzuhalten.

Um dieses Betreuungsgeld, für das gerade einmal 150 Euro monatlich im Gespräch sind, ist eine geradezu weltanschauliche Schlacht entstanden. Dabei geht es nicht um die Belastung des Bundeshaushalts, sondern um die Bedeutung der familiären Erziehung für die optimale Entwicklung des Kindes. Nicht nur SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke, sondern auch Teile der CDU, vor allem Abgeordnete aus der Frauenunion, fordern, auf die Einführung des Betreuungsgeldes zu verzichten. In einer gemeinsamen Stellungnahme kritisierten auch Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und der DGB-Vorsitzende Michael Sommer am 30. November 2011 in seltener Einmütigkeit das Betreuungsgeld. Es widerspreche dem erklärten Ziel der Bundesregierung, “die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen” und setze “bildungs- und arbeitsmarktpolitisch die falschen Signale”. Die Direktoren von drei Wirtschaftsforschungsinstituten, Thomas Straubhaar vom Weltwirtschaftsinstitut in Hamburg, Christoph Schmidt vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung in Essen und Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, brachten die Argumente der Kritiker im Handelsblatt Ende Dezember 2011 auf den Punkt: Das Betreuungsgeld sei ein sozialpolitischer Rückschritt. Es heble “den mühsam errungenen Verdienst des Elterngeldes aus, Mütter zu einer etwas zügigeren Rückkehr ins Erwerbsleben zu bewegen”. Es sei ein Anreiz für Eltern, “ihren Kindern öffentliche Betreuung vorzuenthalten” und ein “Rückschritt zur traditionellen Aufgabenteilung der Geschlechter”. Deutlicher lässt sich die Missachtung der Familie und der familiären Erziehung für die Entwicklung des Kindes kaum ausdrücken.

Die öffentliche Betreuung der Kleinkinder gilt den Kritikern des Betreuungsgeldes als die bessere Alternative zur familiären Erziehung. Die Erkenntnisse der Verhaltensbiologie, der Entwicklungspsychologie, der Pädiatrie und der Hirnforschung im Hinblick auf die Bedeutung emotionaler Bindungen und stabiler Beziehungen in der frühen Kindheit für die Bildung des Humanvermögens künftiger Generationen werden ignoriert. Das Humanvermögen ist die Gesamtheit der Daseins- und Sozialkompetenzen des Menschen, die jeder schulischen Ausbildung und jedem Erwerb beruflicher Fachkompetenzen vorausliegen. Es wird in der Familie grundgelegt. Kinderkrippen gelten den Kritikern des Betreuungsgeldes nicht mehr als zweitbeste, sondern als beste Lösung für berufstätige Eltern. Vernachlässigte Kinder, denen bei der Einschulung Sprachvoraussetzungen und Schulreife fehlen, werden zum Massstab für die Reform des Bildungssystems, das nun bei Null beginnen soll.

Dass die Eltern die Verantwortung tragen, “aus der Familie eine ,Schule reich entfalteter Humanität‘ zu machen … durch die sorgende Liebe zu den Kleinen, den Kranken und den Alten, durch den täglichen gegenseitigen Dienst, durch das Teilen der Güter, der Freuden und der Leiden”, wie Familiaris Consortio in Erinnerung ruft (21), wird in der Auseinandersetzung um das Betreuungsgeld ebenso ignoriert wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998, “dass die Interessen des Kindes in aller Regel am besten von den Eltern wahrgenommen werden”, weshalb das Grundgesetz den Familien, wie das Gericht schon 30 Jahre zuvor feststellte, “den Vorrang vor kollektiven Erziehungsformen” zusichere.

Dieser Vorrang der Familie, den nicht nur das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht, sondern auch die zuvor erwähnten wissenschaftlichen Disziplinen unterstreichen, dient dem Wohl des Kindes. Die Familie ist die “erste Schule für jene sozialen Tugenden, die das Leben und die Entwicklung der Gesellschaft von innen her tragen und gestalten” (42). Sie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Sie ist “der ursprüngliche Ort und das wirksamste Mittel zur Humanisierung und Personalisierung der Gesellschaft”, eine “unersetzliche Schule für gemeinschaftliches Verhalten … im Zeichen von Achtung, Gerechtigkeit, Dialog und Liebe”.

Angesichts der Gefahr, den Menschen seiner Einmaligkeit zu berauben und in der Masse aufgehen zu lassen mit der Folge einer Flucht in Alkohol, Drogen oder gar Terrorismus ist die Familie der Ort, der den Menschen seiner Anonymität entreisst und in ihm das Bewusstsein seiner Personwürde wachhält (43). Der Staat hat deshalb mit seinen Gesetzen und Institutionen – auch den Kinderkrippen – die Rechte und Pflichten der Familie nicht nur nicht zu beeinträchtigen, sondern positiv zu schützen und zu verteidigen (44). Er muss anerkennen, dass die Familie eine “Gemeinschaft eigenen und ursprünglichen Rechts” aus verschiedenen Geschlechtern und Generationen ist. Deshalb ist er verpflichtet, sich in seinen Beziehungen zur Familie “an das Subsidiaritätsprinzip zu halten” und den Familien “alle jene Hilfen auf wirtschaftlichem, sozialem, erzieherischem, politischem und kulturellem Gebiet zu sichern, die sie brauchen, um in menschenwürdiger Weise ihrer vollen Verantwortung nachkommen zu können” (45). Soweit Johannes Paul II. in Familiaris Consortio.

“Der familiären Erziehung kommt eine unersetzliche Bedeutung zu“

Das Kinderförderungsgesetz dient nicht dem Schutz der Rechte und Pflichten der Familie, sondern der ganztägigen Erwerbstätigkeit von Doppelverdienern und damit dem Arbeitsmarkt. Wenn der Staat einen Krippenplatz mit gut tausend Euro monatlich subventioniert, Eltern, die ihre Kleinkinder in der Familie unter Verzicht auf ausserhäusliche Erwerbstätigkeit eines Elternteiles erziehen, aber leer ausgehen lässt oder mit 150 Euro monatlich abspeist, verletzt er das Subsidiaritätsprinzip, das ihm gebietet, erst einmal die Bereitschaft und die Fähigkeit der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder zu stärken. Er schafft mit seiner einseitigen Förderung der Betreuungseinrichtungen eine angebotsinduzierte Nachfrage nach Krippenplätzen. Er zeigt sein Interesse an der “Erwerbsintegration von Frauen” und sein Desinteresse an der Funktion der Familie für das Gemeinwohl.

Johannes Paul II. lässt keinen Zweifel daran, dass die Verantwortung, die Familie zu einer Schule reich entfalteter Humanität zu machen, Mütter und Väter gleichermassen trifft und dass der Frau auf Grund ihrer Würde als Person der gleiche Zugang zur ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit und zu öffentlichen Ämtern offenstehen muss. Die Förderung der Frau wird aber scheitern, wenn sie allein oder vorwiegend auf ihre ausserhäusliche Erwerbstätigkeit zielt und glaubt, ihre mütterlichen und familiären Aufgaben durch Krippen ersetzen zu können. Der familiären Erziehung kommt eine unersetzliche Bedeutung zu. Für sie tragen die Väter, so Familiaris Consortio, die gleiche Verantwortung wie die Mütter. Johannes Paul II. beklagt übrigens ebenso die “Abwesenheit des Vaters in der Familie”, die zu seelischen wie moralischen Problemen führen kann, wie den entgegengesetzten Fall einer erdrückenden Anwesenheit, den “machismo”, der die Frau erniedrigt und ebenfalls gesunde Familienbeziehungen verhindert (25).

Wahre Förderung der Frau im Sinne von Familiaris Consortio zielt auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber nicht auf die heute allein favorisierte simultane Vereinbarkeit, die der Frau die gleichzeitige Erfüllung häuslicher, erzieherischer und beruflicher Verpflichtungen zumutet, sondern auf die sequenzielle oder konsekutive Vereinbarkeit, die zum einen die mütterlichen und häuslichen Aufgaben der Frau als Beruf anerkennt und zum anderen nach einer erziehungsbedingten Erwerbspause den Wiedereinstieg in den alten oder einen neuen Erwerbsberuf fördert. Eine solche Förderung der Frau muss dafür sorgen, dass Mütter “nicht praktisch gezwungen sind, ausser Haus zu arbeiten, und dass ihre Familien angemessen leben und gedeihen können, auch wenn sie sich ganz der eigenen Familie widmen” (23).

Die Bischofssynode zum Thema Familie von 1980, aus der das Apostolische Schreiben Familiaris Consortio hervorging, gab der Hoffnung Ausdruck, dass die Verbindung von Familie und Beruf sowie die Bedeutung der Hausarbeit und der Kindererziehung durch eine erneuerte “Theologie der Arbeit” vertieft werden könne. Dieser Hoffnung entsprach Johannes Paul II. mit seiner ersten Sozialenzyklika über die menschliche Arbeit “Laborem Exercens”, die zum 90. Jahrestag der ersten Sozialenzyklika “Rerum Novarum” am 15. Mai 1981 erscheinen sollte, wegen des Attentats auf Johannes Paul II. am 13. Mai 1981 aber erst vier Monate später, am 14. September 1981 veröffentlicht wurde. Diese Enzyklika ergänzt Familiaris Consortio im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie enthält Leitlinien für diese Vereinbarkeit, die in ihrer ganzen Länge zitiert zu werden verdienen, lässt sich aus ihnen doch nur die Schlussfolgerung ziehen, dass die “C”-Parteien, wenn sie am Elterngeld und am Krippenausbau festhalten, sich einem Betreuungsgeld in vergleichbarer Höhe und Dauer nicht verweigern können.

Von der Umsetzung dieser Leitlinien ist die Familienpolitik in Deutschland im Gegensatz zu einigen anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Tschechien, Schweden und Norwegen heute weiter entfernt als 1981. Diese Umsetzung anzumahnen ist eine Aufgabe nicht nur der Politik und der Wirtschaft, sondern auch der Kirche und der Familienverbände.

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat sich mit seiner familienpolitischen Erklärung vom 20. Mai 2008 von dieser Aufgabe leider verabschiedet. Es bezweifelte, dass es ein katholisches oder natürliches Familienbild überhaupt gibt und warnte davor, die Familie als Ganze beziehungsweise die “Generationenverantwortung” den Bedürfnissen und Interessen der Frauen vorzuziehen und mit dem Kindeswohl die Forderungen der Geschlechtergerechtigkeit auszuhebeln. Eine Familienpolitik, die sich an den Leitlinien von Familiaris Consortio und Laborem Exercens orientiert, hat zu vermeiden, Die Familienpolitik zum Instrument der Arbeitsmarktpolitik oder der Genderpolitik zu machen. Sie darf auf Transferzahlungen an die Familien nicht verzichten. Transferzahlungen, und dazu zählt auch das Betreuungsgeld, sind Investitionen in das Humanvermögen der Gesellschaft, ohne die das Kapitalvermögen verfällt. Sie hat Müttern nach einer kinderbedingten Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit zu helfen, wieder in ihren früheren oder einen anderen Beruf zurückzukehren. Mütterquoten bei Einstellungen können dabei durchaus hilfreich sein. Sie hat sich schliesslich auch der Frage eines Familienwahlrechts zu stellen. Ein solches Familienwahlrecht entspricht der Verantwortung der Eltern für ihre Kinder und schärft den Blick für die Humanität und die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft.

FamiliarisConsortio
FamiliarisConsortio: Apostolisches Schreiben über die Aufgabe der christlichen Familie in der Welt von heute
LaboremExercens
RerumNovarum: Enzyklika über die Arbeiterfrage
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