Political Correctness als Tyrannei der Normalität

Wer anders ist, wird in unserer Gesellschaft schnell abgelehnt.
Das liegt an mittelalterlichen Vorstellungen, sagt der Psychiater Dr. Manfred Lütz.
Interview von Paul Badde mit Dr. Manfred Lütz, Die Welt 15.11.2010

Welt online:  Sie haben von Ihrem Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen“ jetzt eine halbe Million Exemplare verkauft. Sind die Käufer alle Ihre Patienten?

Manfred Lütz: Ganz im Gegenteil. Wer mein Buch liest, ist natürlich künftig vor jeder Krise und psychischen Erkrankung gefeit. Aber im Ernst: Ich habe mich über den Erfolg des Buches vor allem deshalb gefreut, weil auf diese Weise endlich einmal breitere Kreise über psychische Krankheiten aufgeklärt werden.

Welt: Wieso?

Manfred Lütz: Wenn man bedenkt, dass ein Drittel der Deutschen irgendwann im Leben psychisch krank wird und die anderen zwei Drittel irgendwelche psychisch kranken Angehörigen haben, dann ist es eigentlich merkwürdig, dass über psychische Erkrankungen immer noch mittelalterliche Vorstellungen herrschen.

Welt: Trotz der modernen Beispiele? Vor wenigen Tagen jährte sich erstmals die Selbsttötung Robert Enkes, die viele erschütterte. Hat er nicht auch mehr Menschen dazu gebracht, sich beispielsweise über Depressionen besser zu informieren?

Manfred Lütz: Da bin ich mir nicht sicher. Ich fand die Ehefrau und den Psychiater von Robert Enke außerordentlich beeindruckend. Dass sie 19 Stunden nach dem Suizid vor die Presse gingen und aufgeklärt haben über die Erkrankung, das hat die üblichen unsinnigen Vermutungen verhindert. Denn war etwa eine Ehekrise die Ursache oder der Stress des Profifußballs? Hatte er zu wenige Freunde? Nein: Robert Enke hatte eine rührende Frau, tolle Fans, gute Freunde. Er war allerdings krank. Und Ursache für den Suizid war diese Erkrankung. Er litt unter einer phasenhaften Depression, die man heute zwar gut behandeln kann, bei der sich aber immer noch etwa zehn Prozent der Patienten irgendwann umbringen. Das ist sozusagen die Art, wie man an dieser Krankheit stirbt.

Welt: Warum wollen die meisten Menschen weniger davon wissen als etwa von Krebs, Aids oder Fettleibigkeit?

Manfred Lütz: Das hat vielleicht mit der Angst vor dem Unbekannten zu tun. Das aber ist ein Teufelskreis. Nur dadurch, dass man sich über psychische Krankheiten genauso informiert, wie über andere Felder der Allgemeinbildung, kann man diesen Teufelskreis durchbrechen.

Welt: Aber ist da nicht längst ein neues Kapitel aufgeschlagen worden? Lösen Psycho-Runden im Fernsehen nicht fast schon die alten Doktorspiele ab? Hatten bei dem Grubenunglück in Chile Ihre Kollegen nicht weltweit auf allen Kanälen Hochkonjunktur?

Manfred Lütz: Ja, doch das war leider kein Ruhmesblatt für unsere Zunft. Da konnte man tatsächlich – auch in Deutschland – immer wieder sogenannte Psycho-Trauma-Experten sehen, die den chilenischen Bergleuten wortreich erklärten, welche Symptome sie jetzt gefälligst zu bekommen hätten. Da konnte man froh sein, dass die Chilenen kein deutsches Fernsehen empfangen konnten. Der Gruppenzusammenhalt da unten und das Gefühl, von einer solidarischen Euphorie im ganzen Land getragen zu sein, haben diese Menschen wahrscheinlich vor größeren Beeinträchtigungen geschützt.

Welt: Sie sprechen in letzter Zeit gern von der „Tyrannei der Normalität“. Klingt gut, aber das meinen Sie doch nicht im Ernst?

Manfred Lütz: Und ob ich das ernst meine! Das hat sich ja gerade wieder am Fall Sarazzin gezeigt. Ich habe sein Buch nicht gelesen. Den Rezensionen habe ich nur entnommen, dass es da einige problematische Aspekte zu geben scheint. Aber dass aus so einem Buch gleich eine Staatsaffäre gemacht wird und jemand, der immerhin als Politiker auf einen Posten berufen worden ist, seinen Job verliert, weil er sich öffentlich unliebsam äußert, das zeigt uns Deutsche als Musterschüler der Political Correctness. Nicht nur unsere Nachbarn schütteln darüber den Kopf. Das ist die Tyrannei der so genannten Normalität, und sie wird immer tyrannischer.

Welt: War das nicht immer so?

Manfred Lütz: Eben nicht. Der Philosoph Robert Spaemann erinnert ungern, doch oft daran, dass man sich in den als spießig verschrieenen 50er Jahren sehr viel freier äußern konnte als heute. Das ist leider nicht sehr gesund für den öffentlichen Diskurs. Reden von Politikern werden fast nur noch darauf abgesucht, ob der Mann auch bitte gesagt hat, was er sagen musste und um Gottes willen nicht gesagt hat, was er nicht sagen durfte. Politikmüdigkeit wird bei dieser Entwicklung manchmal schon fast ein Zeichen guten Geschmacks.

Welt: Das klingt nach dem Kabarett, wo Sie inzwischen ja auch mit Ihren Thesen auftreten. Ist es nicht auch ungesund oder zumindest sehr gewagt, wenn Sie als Chefarzt eines psychiatrischen Krankenhauses über ein so ernstes Thema Witze machen?

Manfred Lütz: (lacht) Nein. Lachen ist gesund. Es kann sogar heilen. Vor dreißig Jahren habe ich in Bonn eine Gruppe von behinderten und nicht behinderten Jugendlichen gegründet und von ihnen gelernt, dass Behinderte geradezu ein Recht darauf haben, dass man über sie lacht, wenn sie witzig sind. Und Hand aufs Herz: Menschen, die ihre Außergewöhnlichkeit ganz offen leben, sind doch zumeist erheblich interessanter als all die Normopathen, die so normal sind, dass es wehtut.

Welt: Aber haben nicht gerade psychisch Kranke Recht auf Ernst?

Manfred Lütz: Das Problem ist, dass wir über diese Menschen meistens nur bei Feierstunden bierernst daherreden. Damit aber grenzen wir sie aus der Normalgesellschaft aus, denn so erreicht man natürlich nur die üblichen Verdächtigen. Mein Ehrgeiz ist es, unterhaltsam, allgemeinverständlich und so knapp wie möglich alle psychischen Krankheiten darzustellen. Ein alerter Manager, der nie ein Psycho-Buch in die Hand nehmen würde, und das nun liest, weil es ein unterhaltsamer Bestseller ist – wird danach vielleicht zum ersten Mal seinen schizophrenen Vetter anrufen, weil er jetzt weiß: Der ist ja gar nicht so verrückt, wie ich gedacht habe.

Welt: Die Therapieerfolge in Ihrer Branche sind ja sehr unterschiedlich, um wenig zu sagen. Ist Ihr Buch auch eine Art Therapie? Oder gar ein Rezept?

Manfred Lütz: Klar, und natürlich zuerst eine Eigen-Therapie. Tatsächlich haben mir aber auch Patienten geschrieben, sie hätten jetzt zum ersten Mal ihre eigene Krankheit verstanden. Am meisten berührt hat mich der Brief einer 86-Jährigen, die schrieb, sie habe eine Tochter gehabt, die Ärztin gewesen, an Schizophrenie erkrankt sei und sich umgebracht habe. Die Ärzte hätten damals behauptet, sie und ihr Mann seien daran mit ihrer Erziehung schuld gewesen. Sie hätten unter diesem Vorwurf schrecklich gelitten, denn ihre Tochter sei ihr ein und alles gewesen. Nach dem, was sie nun von mir erfahren habe, könne sie jetzt ruhig sterben. Gerade solche Beschuldigungen der Angehörigen und besonders der Eltern war früher eine schreckliche Unart von Therapeuten. Das ist inzwischen wissenschaftlich zwar alles wiederlegt, arbeitet aber immer noch in den Köpfen.

Welt: Warum haben Sie eigentlich außer Medizin auch Philosophie und Theologie studiert? Wollten Sie ein Psychotherapeuten-Seelsorger werden?

Manfred Lütz: Nein, im Gegenteil. Ich bin nachdrücklich dafür, beides zu trennen. Psychotherapie ist eine künstliche, zielgerichtete und dafür im besten Sinne manipulative, methodische Beziehung auf Zeit für Geld. Weder Liebe noch der Sinn des Lebens sind für Geld zu haben. Seelsorge ist viel mehr als Psychotherapie, Seelsorge ist eine existenzielle Beziehung, bei der sich der Seelsorger nicht hinter irgendeiner Methode verstecken darf, sondern mit seinem Glauben und seinen Überzeugungen dem anderen ein echtes Gegenüber sein muss. Wer Seelsorge und Psychotherapie verbindet, der läuft Gefahr, zum Guru zu werden und Anhänger zu produzieren.

Welt: Wie kommen Sie darauf?

Manfred Lütz: So etwas konnte man im katholischen Bereich bei Eugen Drewermann verfolgen und im evangelischen Bereich bei Pfarrer Fliege. Ein guter Seelsorger und ein guter Psychotherapeut haben eines gemeinsam: Sie sollen sich selbst eigentlich überflüssig machen. Der Seelsorger ist dann gut, wenn er sich selbst durchscheinend macht für den Glanz Gottes und die Menschen nicht durch sich selbst blendet. Ein Psychotherapeut ist dann gut, wenn er möglichst schnell dafür sorgt, dass sich der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf die Fähigkeiten und Kräfte des Patienten richtet, die dieser ausgeblendet hat, weil er bloß noch seine Probleme und Defizite sah.

Welt: Sie werden mittlerweile nicht nur zum normalen und außergewöhnlichen Irrsinn und anderen Tragödien befragt, sondern auch zu Wundern und so genannten übernatürlichen Phänomenen. Wie kommen Sie als Psychiater und Theologe damit klar, dass seriöse Wissenschaft und Wunderglaube sich gegenseitig ausschließen?

Manfred Lütz: So ist es ja eben überhaupt nicht. Doch manchmal habe ich den Eindruck, Theologen haben viel mehr Probleme mit Wundern als Wissenschaftler. Im Grunde ist es aber geradezu umgekehrt. Ein Wissenschaftler, der behaupten würde, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse beschrieben das Ganze der Wirklichkeit und darüber hinaus könne es nichts geben, würde die erkenntnistheoretischen Prinzipien seriöser Wissenschaft verkennen. Er betriebe letztlich ein totalitäres ideologisches Projekt. Bedeutende Wissenschaftler zeichnen sich in der Regel gerade durch Bescheidenheit aus – und durch Neugierde. Sie sind niemals nur Buchhalter ihres Wissens, sondern sie wissen, dass es etwas jenseits der Grenzen und des Horizontes ihres Wissens gibt.

Buchtrailer: Literaturfilm Manfred Lütz über seinen Bestseller “Irre!”
Hören wir auf, mit dem Müllwagen durch die Kirchengeschichte zu fahren

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