In Christus offenbart sich die Barmherzigkeit Gottes

Gott will unsere Herzen umwandeln und die Welt aus dem Einflussbereich egoistischer Interessen befreien

WeihnachtsikoneVon Bischof William Shomali

Die Tagespost, 23. Dezember 2015

Unsere Grossväter im Glauben beteten mit dem Propheten Jesaja: “Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen! Die Erde tue sich auf und bringe das Heil hervor” (Jes 45,8). Und nun verkünden die Engel in Bethlehem einfachen Hirten diese erschütternde Nachricht: “Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr.”

Seit jeher war Gott der menschlichen Vernunft zugänglich gewesen und hatte sich als einziger, allwissender und allmächtiger Schöpfer zu erkennen gegeben. Durch das Gewissen des Menschen offenbarte er sich zudem als Gesetzgeber, der das Naturgesetz und die grundlegenden menschlichen Werte kundtat. Sodann hat er sich den Propheten als ein Gott offenbart, der ein Freund der Menschen und ihnen nahe, sowie der Beschützer seines Volkes ist. Doch in der Fülle der Zeit offenbarte er sich durch Jesus Christus als der Heiland der Menschen.

“Jesus möchte von der Gewalt, den Kriegen und dem Terrorismus, dem Übel unseres Jahrhunderts, befreien”

Christus kann uns von unseren Verletzungen und in erster Linie vom menschlichen Hochmut, der Quelle aller Übel, heilen. Denn er war es, der uns lehrte: “Der Grösste von euch soll euer Diener sein.” Das Heilmittel, das uns das Kind tatsächlich bringt, ist die Demut und die Sanftmut.

Jesus, der Erlöser, möchte die Menschheit darüber hinaus von der Gewalt, den Kriegen und dem Terrorismus, dem Übel unseres Jahrhunderts, befreien. Er möchte, dass die Religionen in Frieden und Harmonie leben, denn die religiöse Intoleranz ist der Ursprung unendlicher Leiden. Wie sehr trifft der Paragraph der Bischofssynode für den Mittleren Osten (2010) zu, die dieses friedliche Miteinander zwischen Religionen und Kulturen herbeigesehnt hatte:

“Wir möchten dem Osten und dem Westen zum Wohl unserer Vaterländer und der ganzen Menschheit ein Vorbild des friedlichen Miteinanders zwischen den verschiedenen Religionen und einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Zivilisationen geben.“

Wenn man von einem friedlichen Miteinander spricht, muss man an diesem Weihnachtstag unwillkürlich an die Familien aus dem Irak und aus Syrien denken, die durch die Gewalt und den Hass auseinandergerissen wurden, und die irgendwo auf der Suche nach einem Asyl sind. Vergessen wir sie heute nicht in unserem Gebet!

Jesus ist gekommen, um uns das barmherzige Antlitz des Vaters zu offenbaren. Daher lädt die Entscheidung von Papst Franziskus, das Jahr 2016 als ausserordentliches Jubiläumsjahr der Barmherzigkeit anzukündigen, die Menschen dazu ein, die Barmherzigkeit Gottes für eine Umwandlung der Herzen und für eine gesellschaftliche Veränderung anzunehmen.

Die Barmherzigkeit beschränkt sich nicht auf die individuellen Beziehungen, sondern sollte das öffentliche Leben in all seinen (politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen) Bereichen, auf allen (internationalen, regionalen und lokalen) Ebenen umfassen und sich in alle Richtungen bewegen: zwischen Staaten, Völkern, Ethnien, Religionen und Konfessionen. Wenn die Barmherzigkeit ein Bestandteil des öffentlichen Handelns wird, dann wird es ihr gelingen, die Welt aus dem Einflussbereich egoistischer Interessen in die Sphäre der menschlichen Werte zu überführen.

Die Barmherzigkeit ist ein politischer Akt par excellence, vorausgesetzt, man definiert die Politik in einem eher edelmütigen Sinne, das heisst, als eine Art Verpflichtungserklärung gegenüber der Menschheitsfamilie – ausgehend von ethischen Werten, von denen die Barmherzigkeit ein wesentlicher Bestandteil ist, und die sich der Gewalt, der Unterdrückung, der Ungerechtigkeit und der Herrschsucht widersetzen.

Dieses Kind erinnert uns an den Wert des menschlichen Lebens, das nach dem Abbild Gottes und ihm ähnlich geschaffen wurde. Darum ist es wirklich schmerzhaft, zu erfahren, dass jährlich Millionen von Kindern auf der Erde abgetrieben werden. Was für ein Verlust für unsere Familien, für unsere Länder und für die gesamte Menschheit!

Dieses wunderbare Kind wurde im Schosse einer einträchtigen und glücklichen Familie geboren, um uns zu sagen, wie ungemein wichtig die Einrichtung der Familie ist, die Keimzelle der Gesellschaft und die erste Schule, in der man Gott kennenlernt und erfährt, die Tugenden zu üben. Um sich als Mensch zu entwickeln, braucht das Kind die Zuneigung einer geeinten Familie. Der heilige Paulus hat die Schlüsseltugenden kurz umrissen: “Ich (…) ermahne euch, ein Leben zu führen, das des Rufes würdig ist, der an euch erging. Seid demütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe und bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält.”

“Er ist der Erlöser der Menschheit schlechthin. Er will die Menschen vom Bösen erlösen, das sich in ihnen befindet”

Dieser Frieden ist für die Familie, für unsere Gesellschaften und für die guten Beziehungen zwischen den verschiedenen Religionen unerlässlich, um die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den Zivilisationen und den Kulturen zu vermeiden. Gerade wegen der hohen Bedeutung der Familie hat die katholische Kirche in den Jahren 2014 und 2015 zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Synoden über die Herausforderungen der Familie abgehalten. Mit starker Betonung auf die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe wollte der Papst die Ehenichtigkeitsverfahren vereinfachen, um denjenigen, deren Ehe nicht gültig ist, einen Neuanfang auf neuen Fundamenten zu ermöglichen, ohne dass sie sich gezwungen fühlten, eine ungültige Ehe zu schliessen oder auch weiterhin unnötig zu leiden.

Jesus ist der Erlöser der Menschheit schlechthin. Er will die Menschen vom Bösen erlösen, das sich in ihnen selbst befindet. Er will das menschliche Leben und alle Werte, die das Leben ermöglichen und es schön machen, retten. Er behauptet nicht, unmittelbar ein Retter aus der Wirtschaftsordnung zu sein wie Marx oder die Politik, wie man es vor 2 000 Jahren von ihm erwartete, sondern in erster Linie ist er im spirituellen Sinne ein Retter. Wenn sich der Mensch von der Sünde befreit und die Vergebung und das spirituelle Heil annimmt, dann wird er mit der Unterstützung der Gnade seine Brüder in ihrem Kampf bei einer politischen und wirtschaftlichen Befreiung unterstützen können. Gott zählt auf uns alle, um an dem Heil teilzuhaben, das Jesus zu verkünden gekommen ist.

Mit diesen Worten wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser der Tagespost, ein frohes und gesegnetes Weihnachten! Das Göttliche Kind segne Sie!

Der Autor ist Weihbischof im Lateinischen Patriarchat von Jerusalem. Der Beitrag wurde aus dem Französischen übersetzt von Katrin Krips-Schmidt

Eine Antwort auf In Christus offenbart sich die Barmherzigkeit Gottes

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel