Der Gipfel des Egoismus

Das vereinte Europa wuchs immer von Krise zu Krise

Stephan Baier

Von Stephan Baier 

Die Tagespost, 26. Juni 2015

Das vereinte Europa wuchs immer von Krise zu Krise. Doch jetzt hat eine gefährliche Schubumkehr eingesetzt: Aus der europäischen Integration droht eine Desintegration Europas zu werden. Die Gemeinsamkeiten zerbröseln, der Konsens zerfällt. Sogar die Wege und Methoden, wie man zu Kompromiss oder Konsens gelangt, verlieren ihre Selbstverständlichkeit. Ausgerechnet in einem Moment, in dem ein europäisches Gemeinwohl-Bewusstsein dinglicher wäre denn je, weicht das Solidaritätsprinzip einem neuen nationalen Egoismus. Die immer exzentrischere Haptik des Kommissionspräsidenten, der Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Minister nahezu wahllos herzt, boxt, tätschelt oder küsst, erinnert an einen alternden Leitwolf, der verzweifelt versucht, das auseinanderdriftende Rudel irgendwie zusammenzuhalten.

Irgendwie geht es immer weiter, doch der Schaden ist bereits angerichtet: Im Ringen um die “Rettung” Griechenlands, weil es längst nicht mehr nur um ein paar Milliarden Euro geht, sondern darum, dass das Vertrauen restlos verspielt ist. Nicht bloss die früher Troika genannten “Institutionen” und die mit kurzen Unterbrechungen in Brüssel in Dauersitzung tagenden Finanzminister haben es längst satt, immer neue Tricks und Täuschungsmanöver aus Athen zu parieren. Ja, man kann gemeinschaftlich die Spielregeln ändern, doch wenn ein Spieler sie im Alleingang permanent neu und anders interpretiert, dann ignoriert und schliesslich alle erpresst, weil er sonst das Casino in die Luft sprengen könnte, dann muss jemand die Notbremse ziehen. Im Wilden Westen wurden Falschspieler bestenfalls geteert und gefedert. Janis Varoufakis droht bald Ähnliches.

Auch im Ringen um ein Management des anschwellenden Flüchtlingsstroms scheint die Solidarität in Europa fast aufgebraucht. Das Problem ist – wie der griechische Schuldenberg – nicht mit einer Idee oder einem Trick auf Knopfdruck lösbar. Es muss langfristig moderiert werden. Wenn die Demokratie der besonders betroffenen Staaten Europas nicht zwischen dem Ansturm der Migranten und einer sich radikalisierenden innenpolitischen Kontroverse zerquetscht werden soll, müssen alle Europäer sich an diesem Kraftakt beteiligen. Das Quotensystem, das die EU-Kommission vorschlug, mag im Detail verbesserbar sein, doch das Prinzip selbst ist richtig. Allein, es findet unter den immer panischer reagierenden Regierungen der 28 EU-Mitgliedstaaten keine Mehrheit. Statt die Herausforderung gemeinsam zu schultern, errichten manche lieber Zäune und Mauern, schicken Flüchtlinge weiter, kündigen Vereinbarungen auf. Freiwilligkeit statt Quote heisst in der nationalen Praxis dann irgendwann: Abschottung statt Aufgabenteilung. David Cameron ist in der EU nun nicht mehr das schwarze Schaf in einer weissen Herde, sondern nur mehr der Vorreiter der Desintegration. Dass dem Briten der Schottenrock näher ist als das europäische Hemd, überrascht wenig. Nun aber erklärt er das Säurebad der Desintegration zum Heilbad Europas.

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